Full text: Hessenland (35.1921)

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Licht und zur Finsternis, mitzuzeichneu, zeigt sich 
hier in so durchdringender Beleuchtung, daß auch 
der entschiedene Christ von dem sogenannten Welt 
kind Goethe unendlich viel lernen kann und >veit 
davon entfernt scheint, in dieser Beziehung aus- 
.gelernt zu haben. „Wer das Christentum nicht in 
seinem hohen Wert versteht, der gehe hier unten 
im Staub der Crde bei Goethe in die. Schule"; 
dieser Satz belegt die innige Übereinstimmung der. 
in diesem Buche vorgetragenen Gesinnung mit der 
jenigen August Vilmars, der in der Vorrede zu 
dem posthum erschienenen Werke seines geliebten 
Sohnes nochmals betont, daß Goethes Dichtungen 
aus den christlichen Kreisen nicht verbannt werden 
dürfen noch können, das; sie diesen vielmehr auf das 
Nächste angehören, was zu leugnen auch nur einer be 
klagenswerten geistigen Beschränkung einfallen kann. 
Wenn'die Tragödie „Faust" auch im Äußeren 
rein christliche Züge nicht austveist, diese vielmehr, 
uw sie sich zeigen, gern durch pantheistische Wen 
dungen sich trüben lassen, und die .Fremdheit des 
Dichters der christlichen Heilsoffeubarung selbst 
gegenüber schon im „Prolog" deutlich hervorkommt, 
so werden doch auf die unbewußte Weise, die im 
Dichter über dessen persönliche Begrenzung hinaus 
zu wirken pflegt, in der allgemeinen menschlichen 
Bloßstellung des verneinenden Prinzips, und hier 
allerdings auf Grund einer gewaltigen Auffassung 
des Stoffes und einer ungemein sinnlichen Fülle 
der Darstellung, die vornehmsten Imperative des 
Christentums — Reinheit des Innenlebens, geistige 
Demut, Menschenliebe und Gottvertrauen — über 
alle Zeit hin erschütternd gerechtfertigt. Da jedes 
Lebewesen aber nur das ihm Gemäße sucht, muß 
Goethe, der im Intellektuellen nur eine nebulöse 
AhnMg von den Urkräften des Christentums besaß, 
doch in einer tieferen Schicht seines Weltgefühls 
eine starke Witterung dieser Urkräfte um so mehr 
zugesprochen werden, als er, dessen Größe ja über 
all im Betonen der Hauptsache lind im Vermeiden 
von, Nebensächlichem sich erweist, durch die Voll 
kommenheit der Einzelbilder ein so weltmufassendes 
Gesamtbild schafft, daß alle Einwände, wie sie 
namentlich von einer orthodoxen Ästhetik erhoben 
werden können, unbedingt verstummen müssen . . . 
Das tiefe persönliche Erlebnis, die methodische 
Durchdringung, die Konfrontation mit der christ 
lichen Ideenwelt sind es, die dem Verhältnis Vil 
mars zu Goethe, wie es der Nachwelt übersichtlich 
vor Augen liegt, seine besondere Färbung und 
seinen eigentümlichen Wert verleihen. Der Weg zu 
Goethe, den jeder Geistige zu gehen hat, wird von 
Vilmar in einer Weise erhellt, die die Anwartschaft 
besitzt, in weiterem Umkreise zu wirken, als manche 
vollkommenere Anleitung neueren Datums. Dieser 
Umstand schien ein näheres Eingehen auf den 
Gegenstand zu rechtfertigen. Im übrigen muß auch 
bei dieser Gelegenheit mit Vilmar darauf hingewiesen 
werden, daß eine restlose, weltgeschichtliche Wertung 
Goethes erst dann inöglich fein wird, wenn ein 
neuer, geistesmächtig die Nation beherrschender 
Genius aufgetreten ist, von dessen Standpunkt aus 
der frühere erst in seiner ganzen Größe erfaßt 
werden kann. 
Adolf Hildebrand f. 
‘ Mit dem Heimgang Adolf Hildebrands, der irr 
der Nacht zuur 18. Januar 73jährig in München 
den Folgen eines Schlaganfalles erlag, hat die 
deutsche Plastik ihren Meister verloren und die 
abendländische Kunst einen letzten ihrer Vertreter 
klassischer Art. Seine säkulare Bedeutung vor allem 
in der deutschen Plastik beruht, wie Alexander Heil- > 
meyer treffend zeigte, darin, daß er ihr die plastische ! 
Sehform gegeben, ihre ursprünglichen Allsdrucks- 
formen wieder hergestellt, sie Mieder mit der Ar- 
chitektlir verbunden nnb damit die Skulptur ihrer 
eigentlichen praktischen Bestimmung lvieder zugeführt 
hat. Meyer-Graefe hat seine Bedeutung einnial 
dahin definiert, daß er vielleicht der einzige Ger 
mane loar, den die Antike nicht geknickt, nicht zum 
Epigonen gemacht hat. Adolf Hildebrand hat die 
Antike und auch die Renaissance mit den Augen 
eines inodernen Teutschen angeschaut, er hat sie 
uns neu sehen gelehrt, nicht als Archäologen, son 
dern als empfindende Menschen. 
Adolf Ernst Robert Hildebrand lvurde am 0. Ok 
tober 1847 in Marburg als Sohn des National- 
ökonomen Brlllio Hildebrand geboren, den die Wir 
ren des Jahres 1848 aus Hessen nach Bern ver 
trieben, ivo der Knabe die ersten künstlerischen Ein 
drücke empfing. Seit 1865 besuchte er die Kunstschule 
ill Nürnberg, bildete sich 1866 unter Kaspar Zum 
busch in München weiter, begleitete diesen 1867 
nach Italien und Rom, arbeitete 1869—72 in der 
Berliner Werkstütte Rudolf Siemerings und siedelte 
1872 nach Florenz über, uw er mit Hans von 
Marses und Kourad Fiedler das ehemalige Kloster 
San Francesco di Paolo kaufte. Ende der 80er 
Jahre schuf er sich in München eine zlveite Heimat, 
in der er, 1913 in den Adelsstand erhoben, die 
letzten Jahre seines Lebens in rüstigem Schaffen 
verbrachte. 
Durch Wort und 'Werk hat er der europäischen 
Bildhauerei einen Halt gegeben. Fechter bezeichnet 
es als Hildebrands historisches Verdienst, ivenn die
	        

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