Full text: Hessenland (35.1921)

den sogenannten Kunstkennern, die das Wesen des 
Theaters in der Bewirkung sinnlicher Effekte sehen 
und insofern freilich den „Tasso" dramatisch arm 
finden müssen, sowie endlich, bei jenen scheinbaren 
Verehrern Goethes, die diese Tragödie einer leiden 
schaftlichen Seele entweder zu einfach oder zu aus 
führlich, oder gar zu inhaltlos finden, indem sie 
nichts darin zu sehen vermögen als eine Hof- 
intrigue. Demgegenüber setzt er sich vor, „die 
vollendete künstlerische Bedeutung" seines „Lieb 
lings" ad oculos zu demonstrieren. Er weist nach, 
auf welche Weise in den seelischen Kräften, die das 
Ganze bilden, mit den historischen die individuellen 
Motive innigst sich verflechten, wie denn „Goethes 
Charaktere, der überwiegenden Mehrzahl nach . . . 
aus dem Boden der Wirklichkeit, der Geschichte und 
der persönlichen Erfahrung erwachsen" sind. Hier 
auf erläutert er mit großer Sorgfalt die harmonische 
Architektur des Werkes, jene ideale Ökonomie des 
Ausbaues, ebenmäßig durchgeführt in Exposition, 
Schürzung, Peripetie und Katastrophe, die den 
„Tasso" an künstlerischem Rang denen der hierin 
vorbildlichen Antike gleichstellt. Das Problem der 
Einzelcharakteristik findet Vilmar in jeder Figur von 
neuem derart gelöst, daß er nicht glaubt, in einer- 
anderen Dichtung Goethes etwas von solcher Voll 
kommenheit suchen zu dürfen; die Begründung 
dieses hohen Lobes bildet den Hauptteil der kleinen 
Schrift und stützt sich auf eine tiefe Erkenntnis der 
„Naturkraft unseres unsterblichen Dichters", die sich 
hier am reinsten offenbart habe. Den Sinn des 
Ganzen, das Tragische in der Persönlichkeit des 
Helden, das verhängnisvolle Jneinanderverflochten- 
sein von fremder und eigener Schuld, erblickt Vilmar 
in dem unvermeidlichen Konflikt zwischen Dichter 
und Welt, jener psychischen Problematik, der ein 
schöpferischer Mensch um so leichter unterliegt, je 
reizbarer sein Lebenswille, je empfindsamer sein 
Selbstgefühl, je lebhafter seine Einbildungskraft ist. 
Übrigens verfehlt Vilmar nicht, zu erhärten, daß 
Goethe in Alsonso von Este die Jdealgestalt der 
Fürstlichkeit und in der Prinzessin die Jdealgestalt 
der Weiblichkeit in seinem Sinne geformt und in 
die Sphäre des Unvergänglichen gehoben hat. 
Im „Egmont" — um noch des Wichtigsten Er 
wähnung zu tun — sieht Vilmar mehr eine Folge 
aneinandergereihter, wenn auch wirksamer, Szenen, 
als ein vollständiges Drama, und vermißt im Helden 
das rechte Maß tragischer Größe. Der „Westöstliche 
Divan" erscheint ihm als Kaminfeuer des Greises, 
an dem, statt an den Vulkanen Goethescher Jugend 
und Manneskraft, sich zu 'wärmen, als Verblendung 
der Nachfahren bezeichnet wird. 
Im Winter 1844/45 hat Vilmar zu Marburg 
unter anderem eine Reihe von Vorträgen über 
Goethe gehalten, von denen derjenige über „Tasso" 
oben besprochen worden ist. Leimbach irrt jedoch 
(a. a. £>.), wo er meint, daß die übrigen Borträge 
nur wenig verändert in das Buch von Vilmars 
Sohn Otto „Zum Verständnis Goethes" (2. Auf 
lage, N. G. Elwert, Marburg) übergegangen wären. 
Vielmehr verhält es sich so, daß Otto Vilmar hier 
mit ein 'ganz selbständiges Werk, und zwar auf 
Grund eigener Vorlesungen, geschaffen hat; anderer 
seits freilich weist er in seinen Gedankengängen 
eine solche Übereinstimmung mit denen seines Vaters 
aus, daß es zweckmäßig ist, eine nähere Betrachtung 
dieses Verhältnisses anzuschließen. 
Das Wesentliche in Goethes Lyrik ist nach Otto 
Vilmar neben dem Unerschöpflichen und Beziehungs 
reichen ihres individuellen Grundes eine gewisse 
Kindlichkeit, sene Ungebrochenheit der Empfindung 
noch inl Ausdruck, die geeignet ist, das beruhigende 
Gefühl nahen menschlichen Herzschlages beim Leser 
hervorzurufen. Die Köstlichkeit von Goethes Lyrik 
wäre — im logischen Verfolg dieses Gedankens — 
im unbewußt Volksliedhaften zu suchen, aber das 
inüßte zweifellos als eine Beschränkung angesehen 
werden, denn die Lyrik ist, wie jede Kunstform, 
vielblumig und entwicklungsreich, und Goethe würde 
nicht zu den Meistern der Lyrik gehören, wenn 
dieser Umstand nicht auch in seinen Gedichten her 
vorträte. Otto Vilmar ist sich darüber klar und 
gesteht, daß trotz des von ihm so bevorzugten volks 
tümlich Liedhaften bei Goethe doch die Herrlichkeit 
des Lyrischen selbst auch unmittelbar zum Durch 
bruch tomme — und nach dem neueren Kunstgefühl 
sind es gerade die besten Gedichte, wo dies geschieht. 
Sein Zugeständnis schwächt Otto Vilmar aber nach 
träglich dadurch ab, daß er eben die Singbarkeit 
für ein Kriterium lyrischen Kunstwertes erklärt, 
womit freilich das Gegenteil vom Richtigen gesagt 
wird: das lyrische Gedicht erreicht vielmehr den 
höchsten Grad der Vollkommenheit, wo es durch 
seinen spezifisch musikalischen Gehalt, Auswahl, 
Maß und Klang, das Anlehnungsbedürfnis an 
eine Schwesterkunst gänzlich ausschließt. 
Aber auch im Positiven ist Otto Vilmar durchaus 
der Sohn seines Vaters, wenn er beispielsweise die 
Idee des „Faust" vornehmlich in der Konstrastierung 
von Himmel und Hölle erblickt und das Grandiose 
des Werkes darin, daß der Dichter, ohne — nach 
Otto Vilmar — diesen Gegensatz persönlich erlebt 
zu haben, ihn doch mit einer Überzeugungskraft 
zum Ausdruck bringt, die nachher nicht übertroffen 
worden ist, Die Goethe in so hohem Maße ver 
liehene Sehergabe, die ' Fähigkeit nämlich, das 
Menschenleben in seiner Wahrheit aufzufassen und 
darzustellen, und zugleich den tiefsten Grund alles 
menschlichen Tuns, die jeweilige Stellung zum
	        

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