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wir auch das Heidenturu nicht ivegbringen können
und es uns müssen gefallen lassen, daß sie unsere
Lehrer sind lind — bleiben". So wenig er in der
Tat die welthistorische Bedeutung des Christentums
mit persönlichem Glauben zu fassen, der Erlösungs
bedürftigkeit des Menschen überhaupt eine positive
Stimmung entgegenzubringen vermochte, so stark
stieß Goethe doch die selbstgenügsame, seichte Auf
klärung und den ihr folgenden abstrakten, kurz
atmigen Rationalismus von sich ab. „Daraus er
klärt sich auch die auf den ersten Blick höchst
paradoxe Erscheinung, daß . . Goethes Dichtung
für sehr Viele der Begabten ein Vehikel zum Ver
ständnis der Offenbarung . gewesen ist"; dieser
Dienst kann von den Werken Goethes in der neuen
Zeit freilich nicht mehr in so hohem Maße geleistet
werden, weil inzwischen, nach der im Materialis
mus vollendeten, das ist, ad absurdum geführten
Aufklärung eine, wie es scheint und zu hoffen ist,
sehr kräftige Reaktion selbsttätig eingesetzt hat.
„Auf der anderen Seite müssen wir . . . uns da
gegen verwahren, als sei vom Standpunkt der
christlichen Kirche aus Goethes Poesie im Ganzen
verwerflich — eine Ansicht, welche konsequent dahin
führen muß, alle Poesie, welche nicht Hymnik ist,
als heidnisch und sündlich zu verwerfen ... die
christliche Kirche hat niemals die Poesie als solche
und im Ganzen verworfen und kann auch Goethes
Dichtung unmöglich an sich und im Ganzen ver
werfen. Die geistige Anschauung von der Welt
ist von der Kirche so wenig verboten wie die sinn
liche Anschauung derselben." Sofern aber die Dicht
kunst wahr ist, wird sie, auch in der Darstellung
der Sünde, von keinem kirchlichen Verbot betroffen,
vorausgesetzt, daß diese Wahrheit auf der Grundlage
der völkischen Gesundheit als einer prinzipiellen
Forderung beruht.
Allerdings erweckt Goethe den unabweislichen
Eindruck einer starken, vollkommenen »Gesundheit;
sein Wesen als Dichter hat etwas Heilendes, Be
ruhigendes, Versöhnendes. Mit einem bewunde
rungswürdigen Bewußtsein von den natürlichen
Schranken der menschlichen Individualität verbindet
er eine fürstliche Beherrschung seiner Kräfte, Natur
mensch und Weltmann vereinigen sich in ihm zu
jener großartigen Wirksamkeit, wie sie in seinen
besten Werken als vorbildliche Einheit von Erleb
nis und Gestaltung erscheint. Nicht überall ist aber
diese vollkommene Gesundheit zu verzeichnen. So
können „Die Leiden des jungen Werther" nicht auf
ewige Geltung Anspruch erheben, weil darin zwar
die Poesie eines besonderen Zustandes künstlerisch
dargestellt, nicht aber seine Beziehung zu dem,
was allgemein gelten soll, erhärtet ist. Dieser Man
gel beruht auf einer ungleichmäßigen Vergeistigung
des erlebten Stoffes, wie sie auch „Wilhelm Meister"'
und die „Wahlverwandtschaften" gehindert hat, rest
los zu befriedigen, lnib in den „Römischen Elegien"
geradezu das moralische Mißbehagen des Lesers
hervorruft. Diese Stellungnahme kennzeichnet eine
gewisse auch anderwärts fühlbare Beschränkung dev
literarischen Urteilsfähigkeit Vilmars: das ethische,
Postulat, als Widerhall der durch die Zeitverhült-
nisse hervorgerufenen Schärfe in der Vertretung
seines religiösen Standpunktes, machte ihn un
empfänglich für die Reize des Übergangs und der
Abschweifung, unempfänglich auch für das Schöne
an sich und seine Verfeinerungen. Nur aus solcher
Kargheit des Sinnlichen konnten auch derart harte
Urteile hervorgehen, wie sie von Vilmar über
Wieland und über Jean Paul gefällt worden sind.
Um so stärker muß natürlich die Zustimmung
zum Ausdruck kommen. -So wird von der Lyrik
gerühmt, daß Goethe hier nicht mit Worten, son
dern mit Sachen dichtete. Das Wesen seiner Poesie
ist Plastik, Gestaltendarstellung, die den Menschen
allzeit als ganze Person faßt und nicht bloß nach
einzelnen Eigentümlichkeiten schildert. Die gärende
Unruhe des irdischen Stoffes wird durch die erhabene
Ruhe der Form bewältigt. Kiese Gedichte bestehen
nach Vilmars Eindruck nicht aus losgerissenen Ge
fühlen, Stimmungen, Anwandlungen, sondern aus
wahren lebendigen Bildern in sicheren und festen
Formen, in klaren und zarten Farben. Zur höchsten
Höhe erhebt sich Goethes schöpferische Kraft im
ersten Teil des „Faust", der, Zeitbild und Weltbild
zugleich, Geistiges und Erlebtes völlig im Ge
stalteten auflösend, Jahrhunderten als unvergäng
liches Meisterwerk und Vorbild des Kunstdramas
erscheinen wird, wie „Götz von Berlichingen" als
Vorbild des Volksdramas, eine Distinktion, die von
der neueren Dramaturgie in diesem Zusammenhang
schwerlich anerkannt werden dürfte. In „Iphigenie"
erblickt Vilmar eine vollkommene Lösung des großen
Problems der neueren Dichtkunst, den Geist des
klassischen Altertums im deutschen Sprachleib wieder
erstehen zu lassen — ein Lob, um das sich viele
Dichter der Gegenwart vergebens bemüht haben;
ein ähnliches wird in noch höherem Maße „Her
mann und Dorothea" gespendet, in welchem Epos
Vilmar überhaupt eines der bedeutendsten Produkte
der mächtigen Schöpferkraft Goethes erblickt.
„Torquato Tasso" ist aber der erklärte Liebling
Vilmars, und ihm hat er ein eigenes kleines Buch,
„Über Goethes Tasso" (2. Auflage bei C. Bertels-
inann, Gütersloh) gewidmet. Er geht darin aus
von dem Mangel an Verständnis, auf den dieses
Drama bei der großen Masse gestoßen sei, die sich
bei Goethe, wie er sehr richtig betont, überhaupt
langweilt, wenn sie es auch nicht eingesteht; bei