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Zum Schlüsse möcht ich noch einmal darauf hin- ganz eigenwillig verarbeitet wird. Dieses Doppel
weisen, wie eigenartig sich in der Kinderdichtung gesicht verleiht den anspruchslosen Versgebilden ganz
Selbsttätigkeit mit Nachahmung durchkreuzt, ge- eigenen Reiz. Vielleicht gefällt es dem Leser, sich
nauer: wie auch die Nachahmung schöpferisch wirken . in diesem lustigen Garten noch ein weniges mit
kann und" der tatsächliche, übernommene Stoff oft ! mir zu ergehen.
(Es folgen noch zwei weitere „Spaziergänge".)
Rückblick aus mein Iugendleben.
Eine Erinnerung von D. Wilhelm Wolfs, Superintendent a. T. zu Kassel.
Am )27. Februar 1832 bin ich als der. zweite
Sohn des damaligen Stadtkämmerers und Kasten
provisors Friedrich August Wolfs und seiner Ehe
frau Elise Philippine, geb. Böfser, in der alten
Festung Ziegenhain geboren. Mein Vater war von
Natur durchaus heiter und freudig angelegt, aber
die Mutter war von tiefstem Lebensernst und in
niger Frömmigkeit durchdrungen und hatte hierdurch
auch auf meinen Vater den größten Einfluß ge--
wonnen. Schon im zweiten Jahr unseres Lebens
gewöhnte sie uns Kinder ans Gebet, indem sie
uns darauf hinwies, daß wir neben dem irdischen
Vater auch einen Vater im Himmel hätten, der
sich freue, wenn wir nichts Böses dächten oder
täten, sondern ihn mit ganzem Herzen liebten und
stets vor Augen hätten. Mein Vater stimmte hier
mit völlig überein und freute sich unseres frommen
Gehorsams mit der Mutter. Unvergeßlich ist mir
das einfache Gebet, das sie uns des Abends, wenn
wir zu Bette gingen, aufrichtig beten lehrte:
„Gott, unter Deinem Segen
eil ich der Ruh entgegen;
Dein Name sei gepreist.
Mein Leben und mein Ende
ist Dein, in Deine Hänöe
besehl ich, Vater, meinen Geist."
Zum Tischgebet hatten wir die wenigen Worte:
„Segne, Vater, diese Speise
uns zur Stärke, Dir zum Preise."
Wir waren unterdessen drei Brüder geworden,
als ein wunderschönes Brüderchen mit roten Bäck
chen, blauen Augen und gelben deutschen Locken zu
unser aller Freude noch hinzukam. Allein der
kleine Julius starb zum großen Schmerz der Eltern
und Brüder, als ich fünf Jahre alt war. In einer
entsetzlich schwülen Gewitternacht, wo wir Brüder
vor Hitze und schrecklichem Donner und Blitzen nicht
schlafen konnten, hauchte der kleine Bruder im
Nebenzimmer in den Armen der Eltern seine Seele
aus. Als uns die Eltern am Morgen unter Tränen
sein Ende schilderten, weinten wir natürlich auch,
aber was mich betrifft, so hatte ich doch eigentlich
kein Verständnis davon, was der Tod bedeutete.
Sehr betreten wurde ich deshalb, als die kleine Leiche
in ein Hemdchen gekleidet und aus dem Wohn?
zimmer in eine kleine Kammer getragen wurde,
die nicht geheizt war und deren Fußboden aus>
kleinen gebrannten roten Tonplatten bestand. Dort
wurde sie in der alten Familienwiege auf einer mit
meistern Leinen gedeckten Strohunterlage hingelegt
und mit einem kleinen Leintuch zugedeckt. Beinahe
fassungslos und innerlich ganz unsicher über das!
dunkle Rätsel des Todes kehrte ich zu den Eltern
zurück. Unterdessen war infolge der Gewitternacht
das Wetter umgeschlagen. Ein scharfer Frost war
plötzlich eingetreten, ein mächtiger Schneefall be
deckte fußhoch das ganze Land, und die Einwohner
wurden obrigkeitlich genötigt, auf der Straße eine
Bahn für Fußgänger und Fahrzeuge herzustellen.
Rechts und links von der freigewordenen Bahn
lag der Schnee drei bis vier Fuß hoch. Das Fahren
der Wagen und Schlitten konnte man knarren
hören. Mein einmal rege gewordenes Nachsinnen
über den Tod des kleinen Bruders verwandelte sich
in ein heftiges Verlangen nach Erkenntnis der
Bedeutung und des Zweckes des Todes überhaupt,
zumal der Tag der Beerdigung vor der Türe stand.
Der 9. April des Jahres 1837, wo ich am 27. Fe
bruar mein fünftes Lebensjahr zurückgelegt hatte,
war zur Beerdigung bestimmt. In »der Hausflur
stand der offene Sarg; darin lag in seinem weißen
Totenkleid der kleine Julius, noch rotwangig und
goldlockig wie immer. Ringsherum standen die
Kinder aus der Nachbarschaft, um ihn noch ein
mal zu sehen. Und es war in der Tat ein lieblicher
Anblick, der sich ihnen in dem offenen Sarge dar
bot. Mein Vater als der erfahrenste Blumist der
ganzen Schwalmgegend hatte aus dem kleinen, neben
seinem Zimmer gelegenen Warmhaus eine Menge
grüner Zweige und Pflanzen über die Leiche ver
streut und die gelben Locken damit dürchflochten.
Auf mich machte der Anblick einen merkwürdigen
Eindruck: De§ Gedanke ging mir durchs Herz, „ach,
vielleicht lebt er noch!" Mit tiefer Herzensbewegung
streckte ich die Hand aus, um mich zu überzeugen,
ob er noch lebte. Als ich jedoch zu diesem Zweck die
rote Wange mit dem Finger berührte, ging von
! dem hartgefrorenen Brüderchen ein Todesrieseln
durch mein Herz. Mit Entsetzen, sozusagen mit