Full text: Hessenland (33.1919)

S-AL 157 SML. 
macht. Die greise Frau mar damals bereits fast völlig 
erblindet. Da ihr das Sehen schwer wurde, brachte 
sie den größten Teil des Tages auf einem einfachen 
Lager inmitten ihrer Familienbilder zu; die einst 
so klassisch schönen, regelmäßigen Züge welkten, 
nur die schwarzen Augen loderten noch in alter 
Kraft iS. Stölting empfing sie am Abend; um ihn 
wiedererkennen zu können, bat sie ihn, mit zwei 
brennenden Kerzen vor sie hinzutreten. In dieser 
Beleuchtung entsann sie sich an ihn und forderte 
ihn freundlich auf, Jérôme von neuem seine 
Dienste zu widmen 19 . 
Auf diese Weise ist Stölting trotz des Schwie- 
binger Vertrages zum zweitenmal in die Um 
gebung des Westfalenkönigs eingetreten, und von 
da ab hat er sie nur noch vorübergehend verlassen, 
da ihm Jérôme bei jeder Gelegenheit wie stets 
das vollste Vertrauen bewies. So ist es denn auch 
Stölting gewesen, der Ende Februar 1831 den 
heiklen Auftrag empfing, die beiden Prinzen Na 
poleon Louis und Louis Napoleon, die Söhne 
des Exkönigs Louis von Holland, deren zweiter 
später als Napoleon III. den französischen Thron 
bestiegen hat, von der Teilnahme an der gegen 
den Papst gerichteten revolutionären Bewegung 
in der Romagna zurückzuhalten. Mit einen: Paß 
Gregors XII., einem Brief des Kardinals Fesch 
und mehreren Schreiben Jérômes versehen 99 reiste 
Stölting in das Hauptquartier der Aufständischen 
nach Terni und hatte dort mit den beiden Prinzen 
eine bewegte, aber fruchtlose Zusammenkunft. „Er 
hat mit allen Mitteln versucht, uns zur Rückkehr zu 
bewegen", schrieb Napoleon Louis an seinen 
Oheim „aber wir können es nicht tun." Der 
bisherige günstige Verlauf der Operationen, ihre 
Verpflichtungen gegen die Carbonari, denen sie 
sich angeschlossen hatten, das alles setzte Stöltings 
diplomatischen Künsten unübersteigliche Hinder 
nisse entgegen. Hätte er Glück gehabt, so hätte 
vielleicht die Weltgeschichte einen anderen Lauf 
genommen, Napoleon Louis wäre nicht vierzehn 
Tage später den Masern zum Opfer gefallen, 
Louis Napoleon wäre vielleicht nie zum Erben 
des Herzogs von Reichstadt aufgerückt, die Präsi 
dentenwahl von 1848, der Staatsstreich von 1851, 
das zweite Kaiserreich wären nie zur Tatsache 
geworden. Statt dessen mußte Stölting mit einem 
18 Vgl. den Bericht der Lady Wortley Montagu, den 
ich in der Revue Napoléonienne vom Januar 1911S. 13 f. 
veröffentlicht habe. 
19 Hessische Erinnerungen a. a. O. S. 253 54. 
80 Jöröme an Louis, 26. Februar 1831. — Baron 
D u Casse, Les Rois frères de Napoléon, Paris 1883. 
S. 482 83. Der Brief Jérômes an den Prinzen ebend, 
S. 481/82. 
b' Mémoires et Correspondance a. a.O- Bd.Vll S.463. 
Brief des älteren Prinzen an Jérôme und einem 
weiteren Brief an den Papst den Rückweg an 
treten * 22 * — das Verderben nahm seinen Lauf. 
Bei der Übersiedlung Jérômes nach Florenz, die 
infolge dieser Ereignisse notwendig wurde, scheint 
Stölting noch einmal nach Deutschland zurückgekehrt 
zu sein. Sein alter Jugendfreund Fulda, der 
sich mittlerweile als Kammerrat in Hanau nieder 
gelassen hatte, widerriet ihm damals entschieden, 
sein Schicksal mit dem der Bonapartes dauernd 
zu verknüpfen: er nahm ihm das Versprechen ab, 
in Frankfurt zu bleiben. Und zunächst schien es 
auch, als sei Stölting bereit, sich zu fügen. Er 
beteiligte sich an der Direktion des Polytechnischen 
Instituts in Frankfurt und ließ sich als Lehrkraft 
für moderne Sprachen, Mathemathik und Narur- 
kunpe anstellen. Weiterhin übernahm er die Ver 
mögensverwaltung eines in Nizza lebenden Jugend 
freundes, dessen Töchter er in ein Pensionat nach 
Hanau brachte. Dann aber merkte er selber, daß 
er für Deutschland endgültig verloren sei. Jé 
rôme zu dienen war nun einmal die Bestimmung 
seines Lebens. So ging er nach Italien zurück, 
von wo ihn der Exkönig mit einer wichtigen 
Sendung nach Paris schickte. Ihr .Hauptzweck 
ging dahin, den arg verfahrenen Finanzen des 
einstigen Westfalenkönigs wieder aufzuhelfen 23. 
Dieses Ziel hat er damals nicht erreicht. Da es 
aber nicht ausgeschlossen war, daß ein Erfolg 
erzielt wurde, wenn die Bearbeitung der fran 
zösischen Regierung in angemessener Weise fort 
gesetzt wurde, so verwandelte Jérôme den be 
fristeten Auftrag in eine Dauermission, die Stöl 
ting jahrelang an der Seine festhielt. Urlaub 
erhielt er nur selten, so im Sommer 1834, als 
er Jérôme mit dem Prinzen Napoleon und dem 
Marchese Azzolino nach London begleitete 24 * * * 28 . Um 
so heimischer wurde er dafür in den Salons der 
napoleonischen Aristokratie, so beim Herzog von 
Padua, so beim Baron Meneval, dem langjährigen 
Kabinettssekretär Napoleons und Marie Luises 2 ^, 
so vor allem bei Madame Salvage de Faverolles, 
der Witwe eines französischen Kavallerieobersten, 
die über eine Jahresrente von 80 000 Francs 
verfügte und sich in' erster Linie dadurch 
empfahl, daß sie jederzeit bereit war, bonapar- 
" Beide Briefe sind in ben Mémoires et Correspon- 
dance a. a. O. Bd. VII S. 463 bzw. 464/66 abgedruckt. 
88 Ernest in e v. L. a a. O. S. 301/2. 
24 Arturo Linaker. La vita e i tempi di Enrico 
Mayer, con documenti inediti della storia della edu 
cazione e del risorgimento italiano, Bd. I, Florenz 
1898, S. 233. 
28 Hector Fleischmann, Le roi Joseph Bona 
parte. Lettres d’exil inédites (Amérique—Angleterre— 
Italie)’(1825—1844), Paris 1912 S. 224 (November 1836).
	        
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