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macht. Die greise Frau mar damals bereits fast völlig
erblindet. Da ihr das Sehen schwer wurde, brachte
sie den größten Teil des Tages auf einem einfachen
Lager inmitten ihrer Familienbilder zu; die einst
so klassisch schönen, regelmäßigen Züge welkten,
nur die schwarzen Augen loderten noch in alter
Kraft iS. Stölting empfing sie am Abend; um ihn
wiedererkennen zu können, bat sie ihn, mit zwei
brennenden Kerzen vor sie hinzutreten. In dieser
Beleuchtung entsann sie sich an ihn und forderte
ihn freundlich auf, Jérôme von neuem seine
Dienste zu widmen 19 .
Auf diese Weise ist Stölting trotz des Schwie-
binger Vertrages zum zweitenmal in die Um
gebung des Westfalenkönigs eingetreten, und von
da ab hat er sie nur noch vorübergehend verlassen,
da ihm Jérôme bei jeder Gelegenheit wie stets
das vollste Vertrauen bewies. So ist es denn auch
Stölting gewesen, der Ende Februar 1831 den
heiklen Auftrag empfing, die beiden Prinzen Na
poleon Louis und Louis Napoleon, die Söhne
des Exkönigs Louis von Holland, deren zweiter
später als Napoleon III. den französischen Thron
bestiegen hat, von der Teilnahme an der gegen
den Papst gerichteten revolutionären Bewegung
in der Romagna zurückzuhalten. Mit einen: Paß
Gregors XII., einem Brief des Kardinals Fesch
und mehreren Schreiben Jérômes versehen 99 reiste
Stölting in das Hauptquartier der Aufständischen
nach Terni und hatte dort mit den beiden Prinzen
eine bewegte, aber fruchtlose Zusammenkunft. „Er
hat mit allen Mitteln versucht, uns zur Rückkehr zu
bewegen", schrieb Napoleon Louis an seinen
Oheim „aber wir können es nicht tun." Der
bisherige günstige Verlauf der Operationen, ihre
Verpflichtungen gegen die Carbonari, denen sie
sich angeschlossen hatten, das alles setzte Stöltings
diplomatischen Künsten unübersteigliche Hinder
nisse entgegen. Hätte er Glück gehabt, so hätte
vielleicht die Weltgeschichte einen anderen Lauf
genommen, Napoleon Louis wäre nicht vierzehn
Tage später den Masern zum Opfer gefallen,
Louis Napoleon wäre vielleicht nie zum Erben
des Herzogs von Reichstadt aufgerückt, die Präsi
dentenwahl von 1848, der Staatsstreich von 1851,
das zweite Kaiserreich wären nie zur Tatsache
geworden. Statt dessen mußte Stölting mit einem
18 Vgl. den Bericht der Lady Wortley Montagu, den
ich in der Revue Napoléonienne vom Januar 1911S. 13 f.
veröffentlicht habe.
19 Hessische Erinnerungen a. a. O. S. 253 54.
80 Jöröme an Louis, 26. Februar 1831. — Baron
D u Casse, Les Rois frères de Napoléon, Paris 1883.
S. 482 83. Der Brief Jérômes an den Prinzen ebend,
S. 481/82.
b' Mémoires et Correspondance a. a.O- Bd.Vll S.463.
Brief des älteren Prinzen an Jérôme und einem
weiteren Brief an den Papst den Rückweg an
treten * 22 * — das Verderben nahm seinen Lauf.
Bei der Übersiedlung Jérômes nach Florenz, die
infolge dieser Ereignisse notwendig wurde, scheint
Stölting noch einmal nach Deutschland zurückgekehrt
zu sein. Sein alter Jugendfreund Fulda, der
sich mittlerweile als Kammerrat in Hanau nieder
gelassen hatte, widerriet ihm damals entschieden,
sein Schicksal mit dem der Bonapartes dauernd
zu verknüpfen: er nahm ihm das Versprechen ab,
in Frankfurt zu bleiben. Und zunächst schien es
auch, als sei Stölting bereit, sich zu fügen. Er
beteiligte sich an der Direktion des Polytechnischen
Instituts in Frankfurt und ließ sich als Lehrkraft
für moderne Sprachen, Mathemathik und Narur-
kunpe anstellen. Weiterhin übernahm er die Ver
mögensverwaltung eines in Nizza lebenden Jugend
freundes, dessen Töchter er in ein Pensionat nach
Hanau brachte. Dann aber merkte er selber, daß
er für Deutschland endgültig verloren sei. Jé
rôme zu dienen war nun einmal die Bestimmung
seines Lebens. So ging er nach Italien zurück,
von wo ihn der Exkönig mit einer wichtigen
Sendung nach Paris schickte. Ihr .Hauptzweck
ging dahin, den arg verfahrenen Finanzen des
einstigen Westfalenkönigs wieder aufzuhelfen 23.
Dieses Ziel hat er damals nicht erreicht. Da es
aber nicht ausgeschlossen war, daß ein Erfolg
erzielt wurde, wenn die Bearbeitung der fran
zösischen Regierung in angemessener Weise fort
gesetzt wurde, so verwandelte Jérôme den be
fristeten Auftrag in eine Dauermission, die Stöl
ting jahrelang an der Seine festhielt. Urlaub
erhielt er nur selten, so im Sommer 1834, als
er Jérôme mit dem Prinzen Napoleon und dem
Marchese Azzolino nach London begleitete 24 * * * 28 . Um
so heimischer wurde er dafür in den Salons der
napoleonischen Aristokratie, so beim Herzog von
Padua, so beim Baron Meneval, dem langjährigen
Kabinettssekretär Napoleons und Marie Luises 2 ^,
so vor allem bei Madame Salvage de Faverolles,
der Witwe eines französischen Kavallerieobersten,
die über eine Jahresrente von 80 000 Francs
verfügte und sich in' erster Linie dadurch
empfahl, daß sie jederzeit bereit war, bonapar-
" Beide Briefe sind in ben Mémoires et Correspon-
dance a. a. O. Bd. VII S. 463 bzw. 464/66 abgedruckt.
88 Ernest in e v. L. a a. O. S. 301/2.
24 Arturo Linaker. La vita e i tempi di Enrico
Mayer, con documenti inediti della storia della edu
cazione e del risorgimento italiano, Bd. I, Florenz
1898, S. 233.
28 Hector Fleischmann, Le roi Joseph Bona
parte. Lettres d’exil inédites (Amérique—Angleterre—
Italie)’(1825—1844), Paris 1912 S. 224 (November 1836).