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Leben hindurch an diesem Entschluß festgehalten
hat, die Selbstlosigkeit, mit der er Jérôme bis
Mm letzten Atemzuge gedient hat, das alles spricht
dafür, daß die Errichtung des Königreichs West
falen seine Überzeugungen tatsächlich zum Bewußt
sein und zur Reife gebracht hat. Für einen
Menschen seines Schlages und seiner Herkunft
war das ja begreiflich, vertrat doch der neue
Staat wenigstens aus dem Papier die Idem von
1789, die dem Bückeburger und Pyrmonter Kosmo
politismus, dm Idealen des Marburger Tugend
bundes nahestanden; er brachte die Aufhebung aller
Frondm, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Be
rechtigung zur Bekleidung aller Stellm im Zivil
und Militärdimst ohne Ansehung der Geburt und
der Konfession, er brachte Geschworenen- und
Friedmsgerichte, der nme Herr nannte sich nicht
nur „von Gottes Gnaden", sondern auch „durch
die Verfassung" König von Westfalen — konnte
man da -nicht tatsächlich geblendet werden? Und
konnte man nicht selbst in nationaler Beziehung
gewisse Hoffnungm bewahren, wo der König jung
und bildungsfähig und die Königin eine Deutsche
war, wo sich ein"glänzender Stab deutscher Staats
männer und Gelehrter um den Thron scharte,
wo in der Zivilverwaltung Männer arbeiteten
wie Wolfradt, Bülow, Witzleben, Dohm, Strom
beck, Schmerfeld, Motz, Schmidt-Phiseldeck, wo am
Hofe die Hessen-Philippsthal, Malsburg, Harden
berg, Schulenburg, Münchhausen, Pappenheim
glänzten? Konnte man nicht endlich damit rech
nen, daß sich hier tatsächlich ein moderner deutscher
Staat entwickeln würde, der allmählich die frem
den Elemente wieder ausschied, ein Staat, der
mindestms ebenso dmtsch war wie die süddmtschm
Rheinbundstaatm?
Stölting hat diese Fragm bejaht. Sein bisheriges
Leben war nur ein Tastm gewesm, ein Suchen
nach einem großen Gegenstände, dem er sich ganz
hingeben konnte; Westfalen schim ihm diesen
Gegenstand zu bietm, und so hat er sich rückhalt
los dem jungm Königreich zur Verfügung ge
stellt. Wie es ihn zunächst verwendet hat, steht
nicht fest. Fulda hat später erzählt, daß sein ehe
maliger Bundesbruder im Kriegsministerium be-
gonnm habe; er habe sich da sehr bald unabsicht
lich dank ferner Sprachkenntnisse zum Posten „eines
Gmeralsekretärs und luisant konction du mi
nistes" für die wöchentlichen großen Audienzen
emporgeschwungen; diese Stellung habe ihn aber
leider verblendet und zur Übertretung des Tugend-
vertrages verleitet, der Demut, Bescheidenheit und
Schonung des Mchsten zur Bedingung machte.
,Mit Schrecken hörte ich von dieser seiner Über
hebung, von seiner Anmaßung eines Ministerairs
und sogar von der Veränderung seines Namens,
Standes und ganzen Wesens", hat Fulda hin
zugefügt. „Ich eilte in das Palais des Kriegs
ministeriums und fragte nach Herrn von Stölting.
„II n’y a pas de*M. de Stölting: je ne connais
pas cet homme", erwiderte der Portier. Da, kam
ein feingalonierter Jäger herbei und berichtigte
meine Frage mit dm Worten: „Monsieur, vous
cherchez M. le baron de Stecklenbourg? Je
vous conduirai auprès de lui, suivez-moi s’il
vous plaît", und er führte mich hinauf in dm
prachtvollen Audienzsaal, wo ich meinen Freund
in eleganter Militäruniform, umgebm von einem
großen Kreise demütig gebeugter altersgrauer
Stabsofsiziere und Generale perorierend, mit gnä
digem Ministerblick sich herablassend, aber auch
Verweise erteilend, antraf, und in diesem großen
Kreise sah ich meine bekannten Landsleute, hessische
Generale und Oberste des Kurfürstm: ich konnte
mich vor Entrüstung nicht fassen und warf dem
treulosm Frmnde einm ernstm Blick zu, welchen
dieser augenblicklich verstand, und worauf er durch
eine leichte Handbewegung alle die Nachsuchenden
abtreten ließ. So standen tvir beide einander
gegenüber, und ich warf dm aus meiner Tasche
gezogenen schriftlichm Tugendbundvertrag dem
Treulosm-vor die Füße! — Das war der erste
Abfall von unserm Bunde. Stölting kam hernach
zu mir, gestand sein Vergehen ein und verließ
mit Einwilligung des Königs Jérôme das Mini
sterium" 2 .
Was an dieser Erzählung zutrifft, dürfte sich
auf die Auflösung des ohnehin erledigten Tugend
bundvertrages beschränkm; Gmeralsekretär des
Kriegsministeriums ist Stölting jedenfalls nie ge
wesen, und dm Minister vertreten hat er erst recht
nicht. Der Kreis altersgrauer Stabsofsiziere und
Generale, dem er Audimz erteilt haben soll,
dürfte durch die bei Überlieferungen im allge
meinen und bei Fulda im besonderen häufig auf
tretende Neigung zur Vergrößerung zu erklären
sein, ist doch kaum anzunehmen, daß damals in
Kassel eine nmnenswerte Anzahl höherer und
hoher Offiziere des ehemals kurfürstlichen Heeres
beisammen gewesm seht sollte. Was es mit dem
„baron de Stecklenbourg" auf sich hat, läßt sich
aus dm im Berliner Geheimen Staatsarchiv be
ruhenden Akten der westfälischen Zentralbehörden
leider nicht feststellm.
Richtig ist nur, daß Stölting um jme Zeit herum
dm Titel Baron angenommm hat; ein Borwurf
ist ihm daraus kaum zu machen, lebte man doch in
ehter Zeit, die mit Adelstiteln außerordentlich
2 Hessische Erinnerungen a. a. O. S. 250/51.