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Gleichnis zu viel Ehre, sie würde es gern anneh-
men, da sie über ihre Dichtergaben selbst am
wenigsten Zweisel hegt. Wir waren einmal (in
ihrer neuen Wohnung) zum Tee eingeladen. In
dem größten Zimmer stand ein prachtvolles Sosa
mit gleichen Stühlen von schwerem weißen Seiden
zeug mit kleinen Blumen besät. Sie sagte mir:
„Das ist mein Brautkleid, womit ich diese Möbel
habe, überziehen lassen. Ich hatte es für den Fall,
daß ich Witwe wurde und meine Kinder alle ver
heiratet sein würden, aufgehoben." Einen Herrn,
der sich auf das Sosa niedergelassen, um sein
Sttickchen Butterbrot zum Tee zu genießen, rief
sie ab, um ihn in ein dringendes Gespräch zu ver
wickeln. Sie gestand mir hernach, oder vielmehr
sie sagte es aus freien Stücken, denn sie sagt alles
heraus: sie hätte ihn blos weggelockt, damit nicht
ein Bröschen Butterbrot auf das Sofa fiele, es
könnte davon fleckig werden, es sei doch ihr Braut
kleid: Sie hat beides, etwas von einer Hexe und
einer wohlwollenden, gutmütigen Frau. In einer
Kammer, in die ich geriet, fand ich ein Bett mit
einer Unzahl von alten gewaschenen Handschuhen,
die darauf trocknen sollten. Sie hatte alle, die
sie je gebraucht, ich glaube auch, seit sie Braut ge
wesen, aufgehoben und wollte sie jetzt wieder in
Stand setzen, um sich wahrscheinlich für ihre übrige
Lebenszeit damit zu versorgen. So lebt sie bestän
dig in geschäftigem Müßiggang. An einem der
äußerst kalten Wintertage dieses Jahres hat sie
einmal, wie altes ausgegangen war, in einem
Windofen selbst Feuer anmachen wollen, es ist
kein Stroh da und ihr fällt ein, daß in einer
Bodenkammer unter anderin Bettzeug auch ein
Sack stecke, dessen altes Stroh zu verbrennen eine
löbliche Ökonomie wäre. Sie geht also hinauf,
wirft ialles Bettzeug, denn der Sack liegt unten, mit
der ihr eignen Lebhaftigkeit auseinander. Es türmt
sich lgegen die Tür und driickt diese zu. Wie sie
endlich den Sack gefunden und die Hand voll
Stroh erbeutet hat, sieht sie, daß die Tür, die nur
von außen kann geöffnet werden, zugeschnappt ist
und so muß sie drei Stundeu in der Kälte ver
weilen, wo erst jemand heimkommt, der ihr Pochen
hört und sie erlöst. Sie hat mir das Stückchen
selbst erzählt."
Auch sonst haben sich manche drollige Erinne-
rungen an sie bis auf ihre Urenkel erhalten: So
wendete sie die von der Mutter her überkommenen
sprüchwortlichen Redensarten immer noch an. Man
konnte sie sitzen und lesen sehen, dann schlug sie
Plötzlich, d as Buch zu und rief im Aufspringen:
„Man kann nichts verschwören als das Naseab-
beißen" also: „es ist doch wirklich alles mög
lich". Über die Mode hatte sie das Scherzwort:
„Wenn's Mode ist, singt man Pumpernickel in der
Kirche." Ein anderes lautete: „Die Tollen frieren
nicht" usw. Mit der Zeit hatte ihre Redseligkeit
noch zugenommen: auch auf de^ Straße redete sie
ihre Bekannten fleißig an und soll zuweilen in
den haltenden Wagen hinein lange Geschichten er
zählt haben. Oder sie kam zu Besuch bei ihren
verheirateten Kindern, machte nur die Tür auf,
rief etwas Freundliches hinein, zuweilen auch nur
eine -gute Lehre oder was sie sonst beschäftigte, und
ging wieder ab. Die Teilnahme an allen öffent
lichen Ereignissen blieb ihr bis zuletzt. Die Revo
lution von 1830 und ihre Folgen für Hessen ver
setzte die vierundsiebzigjährige noch in große Auf
regung. Unter der Menschenmenge, die die Straßen
ausfüllte, befand sich auch Philippine. Ein Bürger
redete sie an: dies sei doch kein Platz für alte
Frauen! und führte sie nach Hause. Aber es litt
sie dort nicht lange, sie mußte wieder hinaus.
Ihre Beweglichkeit verlor sie bis zuletzt nicht. Der
Gestalt nach, wenn man ihr Gesicht nicht sah,
wurde sie zuweilen noch für ein junges Mädchen
gehalten.
Mgesehen von Rheumatismus blieb ihre Ge
sundheit kräftig, aber sie hatte eine große Furcht
vor gefährlichen Krankheiten, trotzdem sie sich in
ihren Gedichten so viel mit dein Lebe:: nach dein
Tode beschäftigte und in dem sicheren Glauben
lebte, daß Gott die Leiden und Ungerechtigkeiten
des irdischer: Daseins dereinst ausgleichen würde.
An eine Freundin schreibt sie einmal:
O gute Dora! immer sinnst du noch
Dem Wie und Wann und Wo des Lohnes nach
Der jedem werden soll, der treu und fromm
Die Pflicht erfüllte, die ins junge .Herz
Die Lehre seines Volks ihm eingeprägt.
Du liebe Seele! Solche Grübelei
Bewölkte mir noch keinen Augenblick.
Wer kindlich glaubet, was die Bibel spricht:
Daß Gott die Welt weis' und gerecht regiert,
Und sich auf seinen schönen Himmel freut,
Er ser in einem Stern uns aufbewahrt —
Er blühe noch uns im Elysium —
Der wartet ruhig und veredelt sich.
Denn wie ein wahres Wunderinstrument
Wie seidne Luft*, die Rang und Schönheit hüllt,
Nur aus verfeintem Stoff gelingen kann,
So reift zum höchsten geistigen Genus;
Die Seele nur, die hier veredelt ward.
Ein neues literarisches Unternehmen wagte sie
noch einmal, kurz vor ihrem Tode. 1830 erschien
ihr Buch: „Lieder von Beranger. Nach dem
Französischen treu iibersetzt ifbn Philippine Engel-
* Seidenes Gewand.