Full text: Hessenland (33.1919)

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Gleichnis zu viel Ehre, sie würde es gern anneh- 
men, da sie über ihre Dichtergaben selbst am 
wenigsten Zweisel hegt. Wir waren einmal (in 
ihrer neuen Wohnung) zum Tee eingeladen. In 
dem größten Zimmer stand ein prachtvolles Sosa 
mit gleichen Stühlen von schwerem weißen Seiden 
zeug mit kleinen Blumen besät. Sie sagte mir: 
„Das ist mein Brautkleid, womit ich diese Möbel 
habe, überziehen lassen. Ich hatte es für den Fall, 
daß ich Witwe wurde und meine Kinder alle ver 
heiratet sein würden, aufgehoben." Einen Herrn, 
der sich auf das Sosa niedergelassen, um sein 
Sttickchen Butterbrot zum Tee zu genießen, rief 
sie ab, um ihn in ein dringendes Gespräch zu ver 
wickeln. Sie gestand mir hernach, oder vielmehr 
sie sagte es aus freien Stücken, denn sie sagt alles 
heraus: sie hätte ihn blos weggelockt, damit nicht 
ein Bröschen Butterbrot auf das Sofa fiele, es 
könnte davon fleckig werden, es sei doch ihr Braut 
kleid: Sie hat beides, etwas von einer Hexe und 
einer wohlwollenden, gutmütigen Frau. In einer 
Kammer, in die ich geriet, fand ich ein Bett mit 
einer Unzahl von alten gewaschenen Handschuhen, 
die darauf trocknen sollten. Sie hatte alle, die 
sie je gebraucht, ich glaube auch, seit sie Braut ge 
wesen, aufgehoben und wollte sie jetzt wieder in 
Stand setzen, um sich wahrscheinlich für ihre übrige 
Lebenszeit damit zu versorgen. So lebt sie bestän 
dig in geschäftigem Müßiggang. An einem der 
äußerst kalten Wintertage dieses Jahres hat sie 
einmal, wie altes ausgegangen war, in einem 
Windofen selbst Feuer anmachen wollen, es ist 
kein Stroh da und ihr fällt ein, daß in einer 
Bodenkammer unter anderin Bettzeug auch ein 
Sack stecke, dessen altes Stroh zu verbrennen eine 
löbliche Ökonomie wäre. Sie geht also hinauf, 
wirft ialles Bettzeug, denn der Sack liegt unten, mit 
der ihr eignen Lebhaftigkeit auseinander. Es türmt 
sich lgegen die Tür und driickt diese zu. Wie sie 
endlich den Sack gefunden und die Hand voll 
Stroh erbeutet hat, sieht sie, daß die Tür, die nur 
von außen kann geöffnet werden, zugeschnappt ist 
und so muß sie drei Stundeu in der Kälte ver 
weilen, wo erst jemand heimkommt, der ihr Pochen 
hört und sie erlöst. Sie hat mir das Stückchen 
selbst erzählt." 
Auch sonst haben sich manche drollige Erinne- 
rungen an sie bis auf ihre Urenkel erhalten: So 
wendete sie die von der Mutter her überkommenen 
sprüchwortlichen Redensarten immer noch an. Man 
konnte sie sitzen und lesen sehen, dann schlug sie 
Plötzlich, d as Buch zu und rief im Aufspringen: 
„Man kann nichts verschwören als das Naseab- 
beißen" also: „es ist doch wirklich alles mög 
lich". Über die Mode hatte sie das Scherzwort: 
„Wenn's Mode ist, singt man Pumpernickel in der 
Kirche." Ein anderes lautete: „Die Tollen frieren 
nicht" usw. Mit der Zeit hatte ihre Redseligkeit 
noch zugenommen: auch auf de^ Straße redete sie 
ihre Bekannten fleißig an und soll zuweilen in 
den haltenden Wagen hinein lange Geschichten er 
zählt haben. Oder sie kam zu Besuch bei ihren 
verheirateten Kindern, machte nur die Tür auf, 
rief etwas Freundliches hinein, zuweilen auch nur 
eine -gute Lehre oder was sie sonst beschäftigte, und 
ging wieder ab. Die Teilnahme an allen öffent 
lichen Ereignissen blieb ihr bis zuletzt. Die Revo 
lution von 1830 und ihre Folgen für Hessen ver 
setzte die vierundsiebzigjährige noch in große Auf 
regung. Unter der Menschenmenge, die die Straßen 
ausfüllte, befand sich auch Philippine. Ein Bürger 
redete sie an: dies sei doch kein Platz für alte 
Frauen! und führte sie nach Hause. Aber es litt 
sie dort nicht lange, sie mußte wieder hinaus. 
Ihre Beweglichkeit verlor sie bis zuletzt nicht. Der 
Gestalt nach, wenn man ihr Gesicht nicht sah, 
wurde sie zuweilen noch für ein junges Mädchen 
gehalten. 
Mgesehen von Rheumatismus blieb ihre Ge 
sundheit kräftig, aber sie hatte eine große Furcht 
vor gefährlichen Krankheiten, trotzdem sie sich in 
ihren Gedichten so viel mit dein Lebe:: nach dein 
Tode beschäftigte und in dem sicheren Glauben 
lebte, daß Gott die Leiden und Ungerechtigkeiten 
des irdischer: Daseins dereinst ausgleichen würde. 
An eine Freundin schreibt sie einmal: 
O gute Dora! immer sinnst du noch 
Dem Wie und Wann und Wo des Lohnes nach 
Der jedem werden soll, der treu und fromm 
Die Pflicht erfüllte, die ins junge .Herz 
Die Lehre seines Volks ihm eingeprägt. 
Du liebe Seele! Solche Grübelei 
Bewölkte mir noch keinen Augenblick. 
Wer kindlich glaubet, was die Bibel spricht: 
Daß Gott die Welt weis' und gerecht regiert, 
Und sich auf seinen schönen Himmel freut, 
Er ser in einem Stern uns aufbewahrt — 
Er blühe noch uns im Elysium — 
Der wartet ruhig und veredelt sich. 
Denn wie ein wahres Wunderinstrument 
Wie seidne Luft*, die Rang und Schönheit hüllt, 
Nur aus verfeintem Stoff gelingen kann, 
So reift zum höchsten geistigen Genus; 
Die Seele nur, die hier veredelt ward. 
Ein neues literarisches Unternehmen wagte sie 
noch einmal, kurz vor ihrem Tode. 1830 erschien 
ihr Buch: „Lieder von Beranger. Nach dem 
Französischen treu iibersetzt ifbn Philippine Engel- 
* Seidenes Gewand.
	        
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