Full text: Hessenland (32.1918)

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mann und bei zehn Schritten oft zwanzigmal den 
Hut abzieht, uno einem gegenüber wohnenden Ju 
den unsern Spaß. Oesters als uns lieb werden wir 
von dem Engelhard *) besucht, der recht gut und ge- 
fcheidt auch ist, der einem aber bei jedem Gespräch 
scharfe Degenspitzen von Grundsätzen und Mei 
nungen entgegenhält, so daß man weder mit ihm 
reden noch angenehm sein kann. Zu der Lullu 
(Jordis) geh ich auch selten, wenn man hinkommt, 
sieht man in einem mit dreifach seidenen Vor 
hängen drapierten, mit türkischen Teppichen be 
legten, und mit Pariser Möbeln ausgezierten Zim 
mer eine Gesellschaft Franzosen vor einem ächt 
marmornen Camin sitzen. Der Jordis unterhält 
sich mit ihnen in einem satten, reizlosen Uebermuth 
oder in einer kriechenden Höflichkeit, etwa über 
seine neue Kugellampe, über die Bilder der Licht 
schirme, und schüttet 6au de Cologne auf heiße 
Platten. Wenn man Lust hat, kann man den 
Mahagony-, mit Goldborten besetzten Blasbalg 
ergreifen und das Feuer anblasen. Die Lullu sitzt 
in einem roten Sammetpelz neben dem Feuer, 
packt mit der Kluft einen Grafen, der etwas ein 
geschlummert, an der Nase, erhält sich mit Witz 
und scheint ebensowohl eine Verachtung als einen 
Reiz für dieses Leben zu empfinden. Gewiß aber 
ist sie unglücklich und dauert mich sehr; denn was 
ist trauriger als dies Aufrechterhalten durch blos 
den Witz." Während Arnims und Brentanos Auf 
enthalt in Böhmen nimmt die Korrespondenz über 
literarische Interessen — Arnims „Gräfin Do 
lores" war inzwischen herausgekommen — ihren 
Fortgang. Im Oktober 1810 schickt Jacob in 
selbstloser Weise die von ihm und Wilhelm ge 
sammelten Kindermärchen an Clemens, der sich 
mit dem Plan einer Märchenausgabe trug, zu 
beliebigem Gebrauch ab. Wilhelm, der in Marburg 
weitere Märchenforschungen angestellt hatte, fügt 
einen lustigen Brief über den Marburger Pro 
fessorenklub bei, preist die Hersfelder Stistsruiue, 
sindet Fulda „still, aber gar uicht heilig" und 
gibt ein begrenztes Bild des Kasseler Winter 
lebens. Einen breiten Raum nimmt dann im wei 
teren Briefwechsel die Auseinandersetzung über die 
„Gräfin Dolores" ein, die von den Brüdern 
verschieden beurteilt wird. Für beide bedeutet dieser 
Verkehr noch immer eine sonst unersetzliche Aus 
dehnung ihres Arbeitsgebietes. Über den Kasseler 
Architekten Engelhard, der eben damals zur Voll 
endung seiner Studien nach Italien abreist, 
schreibt Wilhelm, an Clemens in einer realistischen 
Charakteristik, daß von allem, was in den „Wahl- 
*) Dem Architekten in Goethes „Wahlverwandt 
schaften". 
Verwandtschaften" von ihm gesagt werde, auch 
gar nichts wahr sei. 
Ende 1810 wurde Arnim, der sich damals mit 
Bettina verlobte, stärker in die Politik hineinge 
zogen; Clemens begattn mit der Niederschrift seiner 
erst nach seinem Tode herausgegebenen Märchen. 
Bor allem aber wollte er sich jetzt wie beim Wun 
derhorn und „Goldfaden" bei seinem Plan, weitere 
Volksüberlieferungen zu sammeln und zu ver 
öffentlichen, der Sachkunde der beiden Grimms 
bedienen, einem Plan, den er Anfang 1811 aus 
führlich seinen „geliebten Doppelhaken" mitteilt. 
Waren Jacobs und Wilhelms Anfänge durchaus 
von den Bestrebungen der beiden älteren Freunde 
Arnim und Brentano abhängig, so entwirft auch 
jetzt Jacob sofort Pläne zu einem Journal „Der 
Sammler". Zum erstenmal erfahren wir durch 
Steig den Wortlaut der von ihm mit Wilhelms 
Einverständnis abgefaßten, erfrischenden und um 
fassenden „Aufforderung an die gesummten 
Freunde deutscher Poesie und Geschichte" zur 
Sammlung aller mündlichen Traditionen und Sa 
gen des gesamten deutschen Vaterlandes. . Diese 
Ideen sind leider in der von Jacob vorgeschlagenen 
Form nicht zur Ausführung gelangt, sie wirken 
aber noch jahrelang in den Arbeitsabsichten der 
Brüder nach. Die Beziehungen zu Clemens be 
ginnen sich jetzt mählich zu lockern. Kein Wort 
des Dankes weiß er den Brüdern für Übersendung 
ihrer ersten Bücher, und doch hatte Wilhelm seine 
Übersetzung der Altdänischen Heldenlieder ihm und 
Arnim zugeeignet. Im Juli 1811 reist Clemens 
mit Schinkel nach Prag und siedelt im Sommer 
1813 nach Wien über, ohne von sich hören zu 
lassen. Inzwischen hatten die Brüder beschlossen, 
die Herausgabe ihrer Märchen — die beiden ersten 
Bände erschienen bekanntlich 1812 und 1815 — die 
sie Brentano zuliebe zurückgehalten hatten, vor 
zubereiten, sie waren ohnehin mit der Art, wie 
Brentano gegenüber ihrer einfachen, treu gesam 
melten Erzählung die Märchen bearbeitete, indem 
er parodistische Sattre und anderes in sie hinein 
trug, nicht einverstanden. Die geistigen und litera 
rischen Gegensätze zwischen Brentano und den bei 
den Grimms mußten je länger desto mehr zun: 
Ausdruck kommen; der katholisch-poetischen Rich 
tung stand die protestantisch-wissenschaftliche Art 
gegenüber. Der Ausbruch des Krieges konnte nicht 
dazu beitragen, die geistige und literarische Ent 
fernung zu verringern. Das Bedürfnis nach Fort 
setzung des Gedankenaustausches fehlte. So konnte 
Grimm im Mai 1814 auf dem Wiener Kongreß 
Wilhelm gegenüber den Wunsch äußern, Clemens 
dort in Wien nicht anzutreffen und den Bruder 
auffordern, Brentanos journalistischen Plänen
	        

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