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schenden Pappeln, gegenüber lag ein viereckiger
Teich, dicht neben dem Bahndamm zum Unter
stadtbahnhofe; und der Weg zum Tannenwäldchen
und dem Bahnübergänge an der Stelle der großen
Brücke dort führte noch südlich des genannten
Bahndammes hinauf. Alles dies Haben die beiden
großen Bahnhofsumbauten zu Beginn dieses Jahr
hunderts erst gründlich verändert, hohe Dämme
angeschüttet, die Höhe des Reisberges eingeebnet
und niedriger gelegt und an der Stelle des ver
längerten Grünen Weges die Schillerstraße als
die Verbindung mit dem südwestlichen Rothen
ditmold treten lassen.
Schon früher aber hatte sich das Gebiet am
Unterstadtbahnhose verändert. Auch dort, wo jetzt
die große Rothenditmolder Brücke über die Geleise
des Unterstadtbahnhofes setzt, führte einst die Wolf
hagerstraße im Niveauübergang hinüber, zwischen
Wiesen mit lebenden Hecken und Kopfweiden mün-
vete der damalige Rothenditmolder Weg in die
hier noch so gut wie unbebaute Wolfhager Land
straße, und drüben auf dem Rothenberge waren
noch deutlich die Gräben und Wälle der Batterie
zu erkennen, Von der im siebenjährigen Kriege die
Reisberger Schanze sturmreif geschossen war. Die
Reste dieser Batterie sind bei der Anlage der Jo
sephskirche und des Marienkrankenhauses ver
schwunden. Von der Reisberger Schanze wurden
bei der jüngsten Erweiterung des Bahnhofes die
letzten Spuren gefunden und beseitigt.
Bon Rothenditmold zog sich die Mombach, von
einem Fahrwege begleitet, der im Sommer mit
fußhohem Staube, im Herbst und Winter mit
ebensolchem Schmutze überzogen war, unter einer
doppelten Reihe von Weiden bis zur Holländischen
Straße hin. An der Mombach pflegte ein Seiler
längs des Friedhofes sein „ausgedehntes" Ge
schäft zu betreiben, und gar oft habe ich ihm zuge
schaut, wenn ich als Kind mit meiner Mutter
zum Friedhose, zu den Gräbern unserer Lieben
ging. Kurz oberhalb der Wackschen Mühle zwi
schen dichtem Gebüsch ergoß die Mombach sich in
die Ahna. Diese, von einem schmalen Fußwege
begleitet, war mir immer unheimlich, tief hingen
die Weiden über das gestaute Wasser, das schwarz
und still zu stehen schien, und als das einzig Be
lebte erschien mir das mächtige hölzerne Wasserrad
der Mühle. Lustiger dagegen war es in zwei
Gastwirtschaften dort unten, die gewiß noch un
vergessen sind: beim Äppel-Klaus gegenüber dem
Friedhofe, wo selbstgekelterter Apfelmost und
Apfelwein als Spezialität zum Ausschank kam,
und auf Belvedere, von wo man damals noch das
Stadtbild klar vor sich sah, nicht durch den Rauch
der Fabriken entstellt, und wo ein hölzerner Aus
sichtsturm mit bunten Glasfenstern das Entzücken
der Jugend bildete. Dazu dann der Wirt, der
immer witzige und schlagfertige alte Göttling — er
hat erst vor wenigen Jahren seine Augen ge
schlossen —, der im Hinblick auf etwaige an-
nexionistische Gelüste seiner Gäste aus allen Mes-
> fern, Gabeln und Löffeln eingraviert hatte: „Ge
stohlen bei Göttling".
I Noch gar vieles hat sich seit jenen Tagen im
lieben Kassel verändert. Was war der alte Fried
hof zwischen Spohr- und Mauerstraße für eine
Wildnis von Wiesenblumen, ehe die Lutherstraße
entstand und die Anlagen dem Platze die heutige
Gestalt gaben, wenn auch — leider — viele der
alten schönen Denksteine unter den Händen einer
rohen Jugend verstümmelt werden und so das
prächtige Freilichtmuseum, -das uns sich dort in
den Werken älterer Denkmalskunst bietet, manches
Stück verliert, manches verstümmelt wird, ehe
Wind und Wetter ihm den Rest geben. Ehe noch
auf dem kleineren (Fürsten-) Teile be§ Friedhofes
das Pfarrhaus errichtet ward, stand dort das Denk
mal der Frau von Schmerseld, der massige Wür
fel, den ein Sarkophag krönt und der jetzt etwas
weiter in die Anlagen hineingesetzt ist, und an
der hinteren Grenze des Friedhofes zog sich eine
lauge, dachförmig aus Sandsteinplatten errichtete
Gruft, hin, die auch nun längst fortgeräumt ist,
gleich so manchen anderen Stücken, die eine lie
bende Hand ihren Toten errichtet. Und ganz ver
schwunden ist auch längst der Militärfriedhos zwi
schen Luther- und Gießbergstraße, und nur die
wenigsten derer, die heute zu Fuß oder mit der
Elektrischen hier vorübereilen, denken daran, daß
dort manches Leben, reich an Ehre, manches junge,
frische Blut, sein letztes Bette gefunden.
Und was waren das noch für gemütliche alte
Gärten, z. B. dort, wo heute das Hotel Golze
steht. Sandsteinpseiler flankierten die Pforte, ein
langer Fließenweg zwischen Stachelbeerrabatten
führte durch den Garten, in dem neben dem Obst
die schönen alten, lieben Gartenblumen nicht fehl
ten; oder ich denke an den Rochollschen Garten
mit seinen hohen, rauschenden Bäumen, der hohen
grauen Quadermauer, etwa in der Mitte der
Spohrstraße, über die der weiße Giebel des Hauses
hinweglugte, zu dem ein breites hölzernes Gitter
tor den Blick öffnete.
Der kleine Finkenherd mit dem alten Wehr
und die Mühle mit der schönen Linde, ebenso
die alte Fuldabrücke, sie sind ja wohl noch in der
meisten Erinnerung. Der Untergang des alten
schönen Stadtbildes dort ist schon oft genug be
klagt, aber — fort ist fort, hin ist hin!
Noch sehe ich den Spiegel des Fackelteiches
glänzen in der Morgensonne, denke noch an die
Exkursionen zu seinen Ufern, die wir Pennäler
mit einigen jungen Lehrern des Realgymnasiums
unternommen, und die der reichen Teichflora des
wegen seines sumpfigen Grundes berüchtigten Ge
wässers galten; noch erinnere ich mich des Pulver
mühlenweges und der alten Pulvermühle an der
Losse, dort, wo heute die Herkulesbrauerei steht,
ich denke an die Zeit, als der Hasen entstand und
dann, am 1. August 1895, der Hinterraddampfer
„Kassel" als erstes Schiff auf der kanalisierten
Fulda herausrauschte und in den neuen Hafen
einfuhr.