Kasseler Erinnerungen.
Kindererinnerungen haften fest im Gedächtnis,
und manchmal kehrt der Geist, Ruhe suchend, wie
der zu jenen Tagen zurück, da noch das unge
trübte stalle Glück des Schauens in uns war, da
noch die Welt -scheinbar keinen anderen Zweck hatte,
als für uns da zu sein. — So sei denn heute
auch wieder einmal innere Einkehr gehalten, mögen
Bilder aus den Jugendtagen heraufsteigen, soll
mir mein liebes Kassel erstehen, wie i ch es einst
gesehen.
Da ivar denn der Weinberg noch eine wei
tere Umgebung, wenn es hinausging aus dem
heimatlichen Garten. Noch war „der Park", der
hanauische Garten, zum größten Teile in seinem
alten Bestände erhalten, wenn auch schon längst
die kleinen Häuschen der Hofdienerschaft ver
schwunden waren (die noch Hochapfel erwähnt *)
und das Gymnasium vor meinen staunenden
Kinderaugen emporgewachsen. Besonders inter
essant war mir die Eule über dem Portale, zu
ihr schaute ich stets empor, wenn mich mein Weg
dort vorüberführte. Die Weinbergstraße verlief
noch über das Gelände der Henschelschen Gärten,
und aus dem nach dem Jahre 1902 abgetragenen
höchsten Teile des „Parkes" lag eine im Sommer
meist arg verdorrte Rasenfläche, auf der wir Kin
der uns tummelten. Dort erhob sich auch auf hoher
hölzerner Stange eine Windfahne; und ein kleiner
Kirschbaum, unter den: eine Bank stand, war jähr
lich wieder unserer Plünderung ausgesetzt. Weiter
nach der Schöllen Aussicht hiir war das Gebüsch-
dicht und verwachsen, unter einer kleinen Kalk
felswand lag ein Gärtchen, das meines Wissens
irgend ein Stadtdiener oder Parkwächter inne
hatte. In dein Gebüsch aber lagen die Trümmer
einer Figur, die wir Kirrder stets mit einem
gewisseir unbehaglichen Gefühle betrachteten und
umgingell, — erst viel später habe ich erfahren,
daß es ein Bildnis Landgraf Wilhelms IX. ge-
lvesell. Eill alter Brunnen erhob sich dann noch
inl Park an dessen Nordostecke,' ursprünglich war
er mit einem hölzernen Brunnenhäuschen über
baut, und wir pflegten dort meist das Wasser zu
holen, ivenn wir auf der Messe erstandene Eimer,
Gießkannen oder Holzspritzen probieren wollten,
denn wenn auch auf dem Meßplatze an dessen
unterer Seite ein Brunnen mit Steintrog stand,
wo die ersten Versuche gemacht wurden, so zogen
wir uns doch meist sehr schnell wieder in die
heimatlichen Gefilde zurück. Ms dann das höl
zerne Brunnenhäuschen und seine Pumpe der Al-
rersschwäche erlagen, war aus kürze Zeit der
offene Brunnenschacht unser größtes Interesse, bis
ihn die Stadtverwaltung mit Steinplatten zudecken
ließ und uns nur die Möglichkeit blieb, unsern
Wasserbedarf zwischen den Ritzen hindurch an
einem herabgelassenen kleinen Blecheimer zu be
*) „Hessenland" 1906, Nr. 8 — 12 .
ziehen. Im Herbste war es dann wieder eine
Spezialität, die Früchte und namentlich die Näpf
chen der mitten im Park stehenden amerikanischen
Barteiche zu sammeln, die dann „verquankelt"
lvurden.
Ein anderer Tummelplatz unserer Jugendtage
ivar die „Eidechse", jener Weg zwischen den Hecken
und Gärten am Südhange des Weinberges, der
zwar noch heute besteht, aber viel von seiner Ro
mantik eingebüßt hat, seit Mauern und Dielen
wände die lebenden Hecken verdrängt, die ihn
einst umgaben und über deren Blühen und Duften
hinweg der Blick ins freie Land schweifen konnte.
Dort war bas Gelände für unsere Indianer-
spiele, dort wurde auch mehr als einmal festgestellt,
daß srenrdes Obst immer besser schmeckte als das,
was im eigenen Garten im Überflüsse wuchs, und
von der Eidechse aus wurden auch die Ex
kursionen durch die Gärten und Treppenwege
hinab bis zum Philosophenwege, der kleinen Fulda
(Druselbach) und in die Wehlheider Felder hin
ausgedehnt.
Den Rückweg pflegten wir gern über den Felsen-
keller zu nehmen, der an der Stelle des jetzigen
„Hauses Henschel" lag, gls der letzte der einstigen
Reihe dieser vielgerühmten Biergärten: ein steiler
Fußpfad mit eisernem Geländer führte von der
Frankfurter Straße herauf und zwischen den Kalk-
felsen sproßten wilde Rosen und, wild wachsend,
vielleicht als letzter Rest früheren Anbaues, der
Färberweid.
Da ich nun einmal gerade vom Frankfurter
Tore rede, so .mag auch nochmals der Straße ge
dacht sein, wie sie damals aussah, ehe die Elek
trische Bahn nach Zwehren ging, ehe die Straße
noch von großen Mietshäusern eingefaßt war. Alte
mächtige Kastanien beschatteten die Frankfurter
Landstraße bis dorthin, wo die Pappelallee, von
Wehlheiden kommend, einmündet, und von hier
bis an den.Eingang des Dorfes Zwehren standen
starke, breitästige Linden. Erst mit dem Ausbau
der Landstraße zu einem städtischen Straßenzuge
sind diese Bäume 'verschwunden; nur wenige Häu
ser, meist Gärtnerwohnungen, standen rechts und
links an der Straße. In einem dichten, halbver
wilderten Garten u. a. die Gebäude von Schmitt
und Keerl, weiter hinten war es die Domäne
Meierei mit ihren massiven, langgestreckten Scheu
nengebäuden und der davor befindlichen Brücken
wage, und heute noch erinnert, ivenn auch nicht
mehr Gastwirtschaft, das Haus des „Letzten Heller"
an die Zeit der Frachtwagen und der Handwerks
burschen.
Soweit die Straße in. der städtischen Gemar
kung verlies, standen vereinzelt schon Straßen
laternen mit Petroleumlampen, und wenn man
auch damals, noch nicht durch die Gaslaternen
mit ihren Schnittbrennern in der Stadt selbst
verwöhnt war, so ist mir doch der Eindruck der