Full text: Hessenland (32.1918)

Kasseler Erinnerungen. 
Kindererinnerungen haften fest im Gedächtnis, 
und manchmal kehrt der Geist, Ruhe suchend, wie 
der zu jenen Tagen zurück, da noch das unge 
trübte stalle Glück des Schauens in uns war, da 
noch die Welt -scheinbar keinen anderen Zweck hatte, 
als für uns da zu sein. — So sei denn heute 
auch wieder einmal innere Einkehr gehalten, mögen 
Bilder aus den Jugendtagen heraufsteigen, soll 
mir mein liebes Kassel erstehen, wie i ch es einst 
gesehen. 
Da ivar denn der Weinberg noch eine wei 
tere Umgebung, wenn es hinausging aus dem 
heimatlichen Garten. Noch war „der Park", der 
hanauische Garten, zum größten Teile in seinem 
alten Bestände erhalten, wenn auch schon längst 
die kleinen Häuschen der Hofdienerschaft ver 
schwunden waren (die noch Hochapfel erwähnt *) 
und das Gymnasium vor meinen staunenden 
Kinderaugen emporgewachsen. Besonders inter 
essant war mir die Eule über dem Portale, zu 
ihr schaute ich stets empor, wenn mich mein Weg 
dort vorüberführte. Die Weinbergstraße verlief 
noch über das Gelände der Henschelschen Gärten, 
und aus dem nach dem Jahre 1902 abgetragenen 
höchsten Teile des „Parkes" lag eine im Sommer 
meist arg verdorrte Rasenfläche, auf der wir Kin 
der uns tummelten. Dort erhob sich auch auf hoher 
hölzerner Stange eine Windfahne; und ein kleiner 
Kirschbaum, unter den: eine Bank stand, war jähr 
lich wieder unserer Plünderung ausgesetzt. Weiter 
nach der Schöllen Aussicht hiir war das Gebüsch- 
dicht und verwachsen, unter einer kleinen Kalk 
felswand lag ein Gärtchen, das meines Wissens 
irgend ein Stadtdiener oder Parkwächter inne 
hatte. In dein Gebüsch aber lagen die Trümmer 
einer Figur, die wir Kirrder stets mit einem 
gewisseir unbehaglichen Gefühle betrachteten und 
umgingell, — erst viel später habe ich erfahren, 
daß es ein Bildnis Landgraf Wilhelms IX. ge- 
lvesell. Eill alter Brunnen erhob sich dann noch 
inl Park an dessen Nordostecke,' ursprünglich war 
er mit einem hölzernen Brunnenhäuschen über 
baut, und wir pflegten dort meist das Wasser zu 
holen, ivenn wir auf der Messe erstandene Eimer, 
Gießkannen oder Holzspritzen probieren wollten, 
denn wenn auch auf dem Meßplatze an dessen 
unterer Seite ein Brunnen mit Steintrog stand, 
wo die ersten Versuche gemacht wurden, so zogen 
wir uns doch meist sehr schnell wieder in die 
heimatlichen Gefilde zurück. Ms dann das höl 
zerne Brunnenhäuschen und seine Pumpe der Al- 
rersschwäche erlagen, war aus kürze Zeit der 
offene Brunnenschacht unser größtes Interesse, bis 
ihn die Stadtverwaltung mit Steinplatten zudecken 
ließ und uns nur die Möglichkeit blieb, unsern 
Wasserbedarf zwischen den Ritzen hindurch an 
einem herabgelassenen kleinen Blecheimer zu be 
*) „Hessenland" 1906, Nr. 8 — 12 . 
ziehen. Im Herbste war es dann wieder eine 
Spezialität, die Früchte und namentlich die Näpf 
chen der mitten im Park stehenden amerikanischen 
Barteiche zu sammeln, die dann „verquankelt" 
lvurden. 
Ein anderer Tummelplatz unserer Jugendtage 
ivar die „Eidechse", jener Weg zwischen den Hecken 
und Gärten am Südhange des Weinberges, der 
zwar noch heute besteht, aber viel von seiner Ro 
mantik eingebüßt hat, seit Mauern und Dielen 
wände die lebenden Hecken verdrängt, die ihn 
einst umgaben und über deren Blühen und Duften 
hinweg der Blick ins freie Land schweifen konnte. 
Dort war bas Gelände für unsere Indianer- 
spiele, dort wurde auch mehr als einmal festgestellt, 
daß srenrdes Obst immer besser schmeckte als das, 
was im eigenen Garten im Überflüsse wuchs, und 
von der Eidechse aus wurden auch die Ex 
kursionen durch die Gärten und Treppenwege 
hinab bis zum Philosophenwege, der kleinen Fulda 
(Druselbach) und in die Wehlheider Felder hin 
ausgedehnt. 
Den Rückweg pflegten wir gern über den Felsen- 
keller zu nehmen, der an der Stelle des jetzigen 
„Hauses Henschel" lag, gls der letzte der einstigen 
Reihe dieser vielgerühmten Biergärten: ein steiler 
Fußpfad mit eisernem Geländer führte von der 
Frankfurter Straße herauf und zwischen den Kalk- 
felsen sproßten wilde Rosen und, wild wachsend, 
vielleicht als letzter Rest früheren Anbaues, der 
Färberweid. 
Da ich nun einmal gerade vom Frankfurter 
Tore rede, so .mag auch nochmals der Straße ge 
dacht sein, wie sie damals aussah, ehe die Elek 
trische Bahn nach Zwehren ging, ehe die Straße 
noch von großen Mietshäusern eingefaßt war. Alte 
mächtige Kastanien beschatteten die Frankfurter 
Landstraße bis dorthin, wo die Pappelallee, von 
Wehlheiden kommend, einmündet, und von hier 
bis an den.Eingang des Dorfes Zwehren standen 
starke, breitästige Linden. Erst mit dem Ausbau 
der Landstraße zu einem städtischen Straßenzuge 
sind diese Bäume 'verschwunden; nur wenige Häu 
ser, meist Gärtnerwohnungen, standen rechts und 
links an der Straße. In einem dichten, halbver 
wilderten Garten u. a. die Gebäude von Schmitt 
und Keerl, weiter hinten war es die Domäne 
Meierei mit ihren massiven, langgestreckten Scheu 
nengebäuden und der davor befindlichen Brücken 
wage, und heute noch erinnert, ivenn auch nicht 
mehr Gastwirtschaft, das Haus des „Letzten Heller" 
an die Zeit der Frachtwagen und der Handwerks 
burschen. 
Soweit die Straße in. der städtischen Gemar 
kung verlies, standen vereinzelt schon Straßen 
laternen mit Petroleumlampen, und wenn man 
auch damals, noch nicht durch die Gaslaternen 
mit ihren Schnittbrennern in der Stadt selbst 
verwöhnt war, so ist mir doch der Eindruck der
	        
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