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gehen wir durchs Dorf; eine ganze lange Reihe
Mädchen voran und dahinter die Burschen. Dann
singen wir. Wir wissen so viele Lieder, frohe und
traurige, wies gerade kommt." Leise summte sie
vor sich hin:
Da drunten in dem Tale
Da geht der Morgenstern auf.
Da sitzet die Maria
Und Jesus alleine.
„Ihr habt gut singen! Selbst wenn Ihr was
Trauriges singt, seid Ihr vergnügt. Wenn ich mal
einen Ton hören lasse, dann heißt's: ,Vögel, die
am Morgen singen, kriegt am Abend die Katz*
und ,Unser Herrgott sorgt schon, daß die Bäume
nicht in den Himmel wachsend Seit uns alles
verbrannt ist, ist der Vater närrisch worden und
die Jungfer Tante eine Betschwester. Hätt' die
Frau Fürstin uns nicht das lustige Habit verordnet,
ich müßte wohl in Sack und Asche gehn. Geh,
sei gut, bleib' heut' Nacht und morgen bei mir,
dann können wir uns eins erzählen und der Tag
laust eher hin."
Margret, die schon oft in der Stadt genächtigt
hatte, wenn die Arbeit auf der Bleiche drängte,
ließ sich bereden.
Das Haus, das Nanny mit Vater und Tante
bewohnte, lag in einem großen, verwilderten Garten
vor der Stadt, inmitten anderer Torgärten. Ur
sprünglich war es ein Gartenhaus gewesen, wie es
den wohlhabenden Bürgern in den der Stadt ent
fernteren Gärten zum Schutz bei Regenfällen Bedürf
nis war. Doch war es letzlich in Aufnahme ge
kommen, ganze Tage in der Einsamkeit, „am Herzen
der Natur", wie man es nannte, zuzubringen. So
hatten diese Hütten mehr und mehr den Charakter
von Wohnhäusern angenommen, deren Räume aller
dings beschränkt und von bescheidensten Größen
verhältnissen waren. Nannys Vater hatte bei einem
Brand, der vor einigen Jahren sein Anwesen ein
äscherte, den einzigen Sohn und die Frau verloren.
Dies sowie der Verlust seines beträchtlichen Ver
mögens hatte ihn um den Verstand gebracht. Der
vordem so rührige Kaufherr war nicht zu bewegen,
das Gartenhaus, das er als ersten Unterschlupf
hatte benützen müssen, wieder zu verlassen. Er
dämmerte hin zwischen Zeilen totenähnlicher Starre
und Teilnahmlosigkeit und Angstzuständen, wäh
rend deren er überall Brandgeruch wahrzunehmen
glaubte und die ihn Tage und Nächte nicht zur
Ruhe kommen ließen.
Seine Schwester, ein säuerliches altes Iüngfer-
chen, führte so gut wie möglich den Haushalt, wenn
von einem Haushaltführen die Rede sein konnte.
Die beiden Ziegen, die bald hier, bald da in
der Gartenwildnis angepflockt weideten, ein Volk
Hühner und der Garten selbst mußten für die täg
lichen Bedürfnisse aufkommen. Was die Tante
Susette mit Spitzenknüpfeln verdiente sowie Nannys
Erwerb auf der Hofbleiche war das einzige Bargeld,
das ins Haus kam, und Das langte gerade für das
Allernotwendigste.
Die Mädchen schlüpften nach dem spärlichen
Abendbrot in den Garten und wandelten engum
schlungen auf und ab. Nur in dem Teil, der dem
Hause zunächst lag, konnte man die Spuren arbei
tender Hände wahrnehmen. Zwar steckten die
Bohnenstangen windschief und wenig sicher in den
Beeten, wie sie eben eine schwächliche Frauenhand
einzurammen vermocht hatte, das Unkraut machte
sich in den Wegen breit, und nur der unentbehrlichste
Bestand von Gemüsebeeten war vorhanden. Dafür
breiteten sich die perennierender: Stauden in Fülle
aus. Eisenhut und Aklei, tränende Herzen, Stock
rosen, Verbenen und Phlox in allen Farben. Die
Luft war voller Resedenduft, und der Nachtwind
trug manchmal in raschem Stoß eine Welle des
Geruchs der Zentifolien her, die hinten im Garten
in verwilderten Büschen wuchsen. Dort war von
gebahnten Wegen kaum mehr etwas wahrzunehmen.
Schierling und wilde Möhre in Manneshöhe ver
sperrten den Durchgang, die Gbstbäume wucherten
unbeschnitten, wie es ihnen gefiel, und der schmale
Bach verschwand fast hinter dem Gestrüpp der
Weiden. Hier und da blitzte es im Monde auf,
als lägen funkelnde Geschmeide auf seinem Grund,
sonst aber blickte er unter den breiten Klettenblättern
hervor dunkel und glanzlos wie das Auge eines
Toten.
Nanny nahm einen Strauß weißer Lilien, Reseden
und Rosen mit in ihr Kämmerchen und stellte ihn
neben das schmale Bett, das sie heute Nacht mit
der Freundin teilen mußte.
„Das darfst du nicht," wehrte Margret, „weißt
du nicht, daß man vom Blumenduft sterben kann?
Da ist einmal ein Mädchen gewesen, das stellte
auch alle Nacht einen Blumenstrauß neben sich.
Nun, eines Morgens lag es tot im Bett. Die
Leute sagten, der Blumenduft habe es getötet.
Aber meine Godel meint, das wären die Blumen
geister gewesen. Am Tage können sie einem nichts
anhaben, aber um Mitternacht, da find die Geister
los."
„Ach, wenn du wüßtest, wie schön mir träumt,
wenn mein Kämmerchen voll Duft und Mondschein
ist. Vielleicht flüstern mir die Geister die Träume
zu. Wenn sie mich mit solchen Träumen einschlafen
lassen, mögen sie mich nur töten."
Margret lag schon in der Bettstatt an der Wand.
Mit einemmal richtete sie sich empor, daß das Stroh
knisterte, und horchte nach dem Fenster hin, an dem