Full text: Hessenland (32.1918)

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seiner Gewohnheit nach mit raschem Sprung von 
einem Gegenstand zum anderen überging. IAt kam 
er ebenso interessiert auf das erste Thema zurück. 
„Sie haben das also auch bemerkt? Ich dachte, 
die Demoiselle le Faur hätte Ihnen die Augen 
so geblendet, daß die Strahlen einer anderen Sonne 
nicht bis zu Ihnen gedrungen wären." 
„Ah bah!" Der junge Mann pfiff leise durch 
die Zähne. Er konnte sich dieses Sichgehenlasfen 
in der Gegenwart seines hohen Herren schon ge 
statten. War er doch dessen enfant gäte — in 
dieser Saison wenigstens. 
„Nun, nun, warum nicht? Ich kann Ihrem 
Geschmack nur ein Kompliment machen. Das 
Fräulein scheint mir zudem durchaus nicht einver 
standen damit, ihre Jugend wie Fürstin Christiane 
zu verschwenden. Ich glaube kein falscher Prophet 
zu sein, wenn ich behaupte, es flöge lieber heute 
wie morgen mit einem Galan über den Rhein." 
„Mit einem Ehegatten, sicher", pflichtete der 
Marquis bei. „Einem Galan würden diese rosigen 
Fingerspitzen auch noch nicht einen Augenblick länger 
als schicklich überlassen. Das brennt auf Abenteuer, 
langweilt sich zum Sterben und ist doch so in Ehr- 
barlichkeit eingewickelt» daß es den, der helfen wollte, 
diese Verhüllung abzustreifen, mit höchster Indi 
gnation bestrafen würde. Wenn mir eine Sorte 
Weiber verleidet ist, so sind es die, die nicht 
wissen, was sie wollen. D. h. sie wissen wohl, 
was sie wollen, haben aber nicht den Mut, sich dazu 
zu bekennen. Sie spielen sich auf die Kosmopolitin 
hinaus und sind dabei so enge, daß sie nach Mutters 
Schürze greifen, wenn sie ein kühneres Wort hören. 
Da erwartet man lausend Überraschungen und 
findet nachher eine ehrbare Bürgerin, das ist alles." 
„Da tut man freilich besser, sich von vornherein 
an eine Bürgerin zu hallen, da erlebt man wenigstens 
keine Enttäuschungen. Habe ich recht?" 
„Das Mädchen interessiert mich in der Tat. 
Haben Sie dieses seltsame Gemisch von kindlicher 
Schelmerei und Schwermut bemerkt? Nichts rei 
zender als ein Gesicht, in dem sich jede wechselnde 
Stimmung spiegelt, wie der Himmel in einem See. 
Wie das Kind zuerst dastand, geängstet, beschämt 
durch unsere Gegenwart, da schienen diese Augen 
dunkel und von Leid beschattet. Dann, gedrängt 
von der Schaffnerin, trat es in die Mille. Noch 
kamen die Worte zögernd, doch die Freude, sich 
vor den andern ausgezeichnet zu wissen, siegle. 
Wie eine Gleichberechtigte stand es vor der Fürstin. 
Das Mädchen weiß, daß es schön ist, und trägt 
dies Bewußtsein wie eine Krone. Aber mit eins 
fühlte es, daß es sich verraten, und die Augen, die 
eben noch so siegesbewußt geleuchtet, senkten sich 
beschämt hinter dem Schleier der dunklen Wimper. 
Das hat mich gepackt. Diese Mischung von mäd 
chenhafter Scheu und weiblichem Machtbewußtsein. 
Das verspricht eine immer neue Abwechslung, da 
sind Rätsel zu lösen." 
„Gott, sind Sie beneidenswert jung, Marquis. 
Sie haben doch noch Enthusiasmus, Sie werden 
ja zum Poeten!" lachte der Fürst. „Wenn das 
Mädchen nach diesem kurzen Sehen Sie schon so 
beschäftigt, daß Sie in Dythyramben sprechen, müssen 
wir uns wohl darauf gefaßt machen, daß Sie uns 
Ihre Gegenwart solange entziehen werden, bis Sie 
dieses Rätsel von Grund auf gelöst haben. Vergessen 
Sie darüber nicht, daß Sie hier am Hofe noch 
eine andere Mission haben, die Sie ebensogut 
embrassieren müssen, wie Sie Ihr Rätselmädchen 
embrassieren möchten. Statt uns also sogleich auf 
die Fährte jener Holden zu machen, werden wir 
vorerst die nötigen Vorbereitungen treffen, um bei 
der Tafel die Nation und den Hof, die uns entsandt, 
würdig zu vertreten." 
(Fortsetzung folgt.) 
Der israelitische Friedhof zu Kassel. 
Von L u d w i g H o r w i tz. 
Wer als Fremder zum ersten Male den Kasseler 
israelitischen Friedhof betritt, wird von der auf 
ihm lagernden vornehmen Ruhe, der musterhaften 
Ordnung und der wohlweisen Einteilung ergriffen. 
Wer ein Auge zum Sehen hat, wird auch durch 
das landschaftliche Bild, von dem das „ewige 
Haus" umrahmt ist, gefesselt, denn zu jeder 
Jahreszeit wird man von den Höhen des Habichts- 
Waldes, der Söhre und des Kaufungerwaldes wie 
tlicht minder von dem herrlichen östlichen Pano 
rama nach dem Fuldatal und Wolfsanger zu in 
Anspruch genommen. Es ist wahrlich ein Ort des 
Friedens und der Ruhe. Noch stört ihn nicht daS 
Getriebe der Großstadt; noch vernehmen wir auf 
ihm nicht das Sausen und Pochen der Maschinen; 
nur von Zeit zu Zeit dringt der Pfiff der Loko 
motive an unser Ohr, als wolle er mahnen, daß 
das stetig fortschreitende Leben der Gegenwart an 
dem Hofe des Friedens nicht spurlos vorübergeht. 
Das Wort der Alten, daß die Menschen in der 
Geburts- und Todesstunde gleich sind, wird auf 
dem Kasseler Friedhof vollauf zur Wahrheit, denn 
daselbst ist jeder Standesuntexschied geschwunden. 
Wie allen Heimgegangenen die gleichen Steche-
	        

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