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seiner Gewohnheit nach mit raschem Sprung von
einem Gegenstand zum anderen überging. IAt kam
er ebenso interessiert auf das erste Thema zurück.
„Sie haben das also auch bemerkt? Ich dachte,
die Demoiselle le Faur hätte Ihnen die Augen
so geblendet, daß die Strahlen einer anderen Sonne
nicht bis zu Ihnen gedrungen wären."
„Ah bah!" Der junge Mann pfiff leise durch
die Zähne. Er konnte sich dieses Sichgehenlasfen
in der Gegenwart seines hohen Herren schon ge
statten. War er doch dessen enfant gäte — in
dieser Saison wenigstens.
„Nun, nun, warum nicht? Ich kann Ihrem
Geschmack nur ein Kompliment machen. Das
Fräulein scheint mir zudem durchaus nicht einver
standen damit, ihre Jugend wie Fürstin Christiane
zu verschwenden. Ich glaube kein falscher Prophet
zu sein, wenn ich behaupte, es flöge lieber heute
wie morgen mit einem Galan über den Rhein."
„Mit einem Ehegatten, sicher", pflichtete der
Marquis bei. „Einem Galan würden diese rosigen
Fingerspitzen auch noch nicht einen Augenblick länger
als schicklich überlassen. Das brennt auf Abenteuer,
langweilt sich zum Sterben und ist doch so in Ehr-
barlichkeit eingewickelt» daß es den, der helfen wollte,
diese Verhüllung abzustreifen, mit höchster Indi
gnation bestrafen würde. Wenn mir eine Sorte
Weiber verleidet ist, so sind es die, die nicht
wissen, was sie wollen. D. h. sie wissen wohl,
was sie wollen, haben aber nicht den Mut, sich dazu
zu bekennen. Sie spielen sich auf die Kosmopolitin
hinaus und sind dabei so enge, daß sie nach Mutters
Schürze greifen, wenn sie ein kühneres Wort hören.
Da erwartet man lausend Überraschungen und
findet nachher eine ehrbare Bürgerin, das ist alles."
„Da tut man freilich besser, sich von vornherein
an eine Bürgerin zu hallen, da erlebt man wenigstens
keine Enttäuschungen. Habe ich recht?"
„Das Mädchen interessiert mich in der Tat.
Haben Sie dieses seltsame Gemisch von kindlicher
Schelmerei und Schwermut bemerkt? Nichts rei
zender als ein Gesicht, in dem sich jede wechselnde
Stimmung spiegelt, wie der Himmel in einem See.
Wie das Kind zuerst dastand, geängstet, beschämt
durch unsere Gegenwart, da schienen diese Augen
dunkel und von Leid beschattet. Dann, gedrängt
von der Schaffnerin, trat es in die Mille. Noch
kamen die Worte zögernd, doch die Freude, sich
vor den andern ausgezeichnet zu wissen, siegle.
Wie eine Gleichberechtigte stand es vor der Fürstin.
Das Mädchen weiß, daß es schön ist, und trägt
dies Bewußtsein wie eine Krone. Aber mit eins
fühlte es, daß es sich verraten, und die Augen, die
eben noch so siegesbewußt geleuchtet, senkten sich
beschämt hinter dem Schleier der dunklen Wimper.
Das hat mich gepackt. Diese Mischung von mäd
chenhafter Scheu und weiblichem Machtbewußtsein.
Das verspricht eine immer neue Abwechslung, da
sind Rätsel zu lösen."
„Gott, sind Sie beneidenswert jung, Marquis.
Sie haben doch noch Enthusiasmus, Sie werden
ja zum Poeten!" lachte der Fürst. „Wenn das
Mädchen nach diesem kurzen Sehen Sie schon so
beschäftigt, daß Sie in Dythyramben sprechen, müssen
wir uns wohl darauf gefaßt machen, daß Sie uns
Ihre Gegenwart solange entziehen werden, bis Sie
dieses Rätsel von Grund auf gelöst haben. Vergessen
Sie darüber nicht, daß Sie hier am Hofe noch
eine andere Mission haben, die Sie ebensogut
embrassieren müssen, wie Sie Ihr Rätselmädchen
embrassieren möchten. Statt uns also sogleich auf
die Fährte jener Holden zu machen, werden wir
vorerst die nötigen Vorbereitungen treffen, um bei
der Tafel die Nation und den Hof, die uns entsandt,
würdig zu vertreten."
(Fortsetzung folgt.)
Der israelitische Friedhof zu Kassel.
Von L u d w i g H o r w i tz.
Wer als Fremder zum ersten Male den Kasseler
israelitischen Friedhof betritt, wird von der auf
ihm lagernden vornehmen Ruhe, der musterhaften
Ordnung und der wohlweisen Einteilung ergriffen.
Wer ein Auge zum Sehen hat, wird auch durch
das landschaftliche Bild, von dem das „ewige
Haus" umrahmt ist, gefesselt, denn zu jeder
Jahreszeit wird man von den Höhen des Habichts-
Waldes, der Söhre und des Kaufungerwaldes wie
tlicht minder von dem herrlichen östlichen Pano
rama nach dem Fuldatal und Wolfsanger zu in
Anspruch genommen. Es ist wahrlich ein Ort des
Friedens und der Ruhe. Noch stört ihn nicht daS
Getriebe der Großstadt; noch vernehmen wir auf
ihm nicht das Sausen und Pochen der Maschinen;
nur von Zeit zu Zeit dringt der Pfiff der Loko
motive an unser Ohr, als wolle er mahnen, daß
das stetig fortschreitende Leben der Gegenwart an
dem Hofe des Friedens nicht spurlos vorübergeht.
Das Wort der Alten, daß die Menschen in der
Geburts- und Todesstunde gleich sind, wird auf
dem Kasseler Friedhof vollauf zur Wahrheit, denn
daselbst ist jeder Standesuntexschied geschwunden.
Wie allen Heimgegangenen die gleichen Steche-