Full text: Hessenland (32.1918)

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Bnulverk, indem er sich am 21. August 1801 in 
sein Tagebuch notiert: „Waldkappel, ein kleines 
Landstädtchcn mit einer schönen Kirche". Weit 
mehr interessierten ihn die modernen- Anlagen in 
und um Kassel. Zum erstenmal weilte er vom 
14. bis 16. September 1779 in Kassel. Da er 
mit dem Herzog Karl August ohne höfische Ver 
pflichtungen inkognito reiste, konnte er sich unein 
geschränkt der Besichtigung der Sehenswürdig 
keiten widmen, vom Aucpark bis heraus zum 
Winterkasten. Den Hof lernte er erst im Oktober 
178.3 kennen aus einer Harzreise, wo er dem 
Drängen Fritz von Steins, den Winterkasten zu 
sehen, nachgab. „Ich bin am Hof gewesen und 
werde überall sehr gut aufgenommen", schreibt er 
der Mutter des jungen Zöglings. Bor Weihnachten 
1792 kehrte er aus der Heimreise aus der Cham 
pagne flüchtig in Kassel ein und erzwang sich 
durch eine derbe deutsche Aussprache die Aufnahme 
in seinem alten Absteigequartier. Zuletzt weilte 
er im August 1801 in Kassel, wohin er auch Chri 
stiane Vulpius bestellte, die hier ihre Garderobe 
vervollständigen sollte. In Gesellschaft seines 
Freundes, des Weimarer Professors Meyer, ge 
nießt er die Kunstschätze und sieht unter Nahls 
Leitung die Wasser in Wilhelmshöhe spielen. 
Goethe wohnte regelmäßig im Gasthaus am Kö- 
nigsplatz beim Wirt le Goullon. Es gab in Kassel 
für Goethe vieles zu sehen, die Ateliers, das alte 
Landgrafenschloß mit seinen Sälen, die Antiken, 
das Kunstkabinett und vor allem die Galerie. Es 
wäre wissenswert, welches von den Kunstwerken 
unserer Sammlungen ihn besonders angesprochen 
hat. Leider versagen hier die Briefe und Tage 
bücher vollständig. Ein Zufall will es, daß sich 
von den wenigen Stücken, über die Äußerungen 
Goethes vorhanden sind, kein einziges mehr hier 
erhalten hat. Goethes Interesse für die Leonardo 
da Vinci zugeschriebene „Charitas" ist dadurch be 
zeugt, haß er später den Köpf stechen ließ. Schließ 
lich ist die andauernde Liebe Goethes für die vier 
Jahreszeiten Claude Lorrains hervorzuheben, die 
dann über Schloß Malmaison durch Kauf an die 
Petersburger Eremitage übergegangen sind. Für 
den kostbarsten Besitz unserer Galerie, die Nieder 
länder und besonders die Gemälde Rembrandts, 
fehlten ihm Verständnis und Wertschätzung; er 
hatte sich während der italienischen Reise von den 
Niederländern und Rembrandt völlig abgewandt, 
dagegen sein lebhaftes Interesse der klassizistischen 
Kunst zugewandt. Zwar, wie er 1783 über den 
„gelehrten Hof" in Kassel spottet, so hat er sich 
schon 1779 ein kritisches Urteil über die Kasseler 
Kunstbestrebungen („Kasseler Kunst- und Alter 
tumskram") gebildet. Die langjährigen Beziehun 
gen Goethes zu Wilhelm Tischbein, die in dem 
berühmten Bild des auf antiken Trümmern hin- 
gelagerten jugendlichen Goethe im Städelschen In 
stitut zu Frankfurt ihren beredten Ausdruck ge 
funden haben, führten 1806 zu jener Reihe kleiner 
Gedichte, die den einzelnen künstlerischen Erzeug 
nissen des Malers gewidmet waren, darunter der 
munteren Charakteristik des alten Kunstfreundes: 
Erst ein Deutscher, dann ein Schweizer, 
Dann ein Berg- und Thal-Durchkreuzer, 
Römer, dann Napolitaner, 
Philosoph und doch kein Auer, 
Dichter, fruchtbar aller Orten, 
Bald mit Zeichen, bald mit Worten, 
Immer bleibest du derselbe 
Von der Tiber bis zur Elbe! 
Glück und Heil, so wie du strebest! 
Leben, so wie du belebest! 
So genieße! Laß genießen! 
Bis die Nymphen dich begrüßen, 
Die sich in der Jlme baden 
Und aufs freundlichste dich laden. 
Später hat Goethe über die Kasseler Kunst- 
bestrebungen wesentlich freundlicher geurteilt. Er 
schätzte die hessische Residenz nicht nur als Be 
wahrerin von Kunstschätzen und knüpfte um die 
Jahrhundertwende neue Beziehungen zu Lehrern 
und Schülern der Akademie, die sich bis an sein 
Lebensende hinzogen. Da war zunächst der jüngere 
Nahl, der Sohn des Bildhauers, den Goethe 1779 
in seinem Atelier besucht hatte. Er würdigte die 
Zeichnungen Nahls, die er 1795 und 1801 mit 
Preisen bedachte; auch Hummel und van Rohden 
erfreuten sich seiner besonderen Förderung und 
Empfehlung, und Ludwig Grimm gewann schon 
1809 seinen Beifall. Drei Mitglieder der Fa 
milie Ruhl, der Hofbildhaner Joh. Chr. Rnhl, 
der Akademiedirektor Ludwig Sigismund Ruhl und 
der Erbauer des Ständehauses, Julius Eugen 
Ruhl, haben Beziehungen zu Goethe gehabt, und 
Ludwig Sigismund Ruhl war vielleicht der letzte 
der Kasselaner, die persönliche Erinnerungen an 
den großen Dichter bewahrten. Auch den Maler 
und Archäologen Johann Karl Wilhelm Zahn, 
der ausgezeichnete Wiedergaben der pompejanischen 
Wandgemälde schuf, hat Goethe hochgeschätzt. Die 
interessanteste Erscheinung in diesem Kreis ist der 
Architekt Daniel Engelhard (1788—1856), der 
1803 mit Wilhelm Grimm zusammen vom Lyzeum 
abging. Der hochgewachsene dunkelhaarige Jüng 
ling erschien im November 1808 in Weimar und 
erregte derart das besondere Interesse Goethes, 
daß er ihn zum Modell des Architekten in den 
„Wahlverwandtschaften" machte. Als diese 1809 
erschienen, erkannten ihn die beiden Grimms so 
fort darin wieder. In seinen Schriften erweist 
sich Engelhard, der Schöpfer der „Engelsburg"
	        

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