350 SSÉ4L,
aber nicht, wenn sie nicht dem materiellen Rechte
entsprachen. Mein Gedanke war nun der, die
Eintragung zu einem formalen Recht zu erheben,
so daß auf seiner Grundlage der bona fide Erwerb
geschützt werde; derselbe Gedanke, der auch später
den preußischen Grnndbuchgesetzen zugrunde lag.
Ich wurde nun mit der Ausarbeitung eines be
züglichen Entwurfes beauftragt. Im Frühjahr
1858 sandte mich'das Ministerium nach Sachsen,
um die dortigen Verhältnisse zu erkunden. Ich
ward in Leipzig von dem Präsidenten Robert
Schneider und in Dresden von dem Präsidenten
v. Langen sehr freundlich aufgenommen und in
allem unterwiesen. So vollendete ich nun meine
Entwürfe; und wenn sie zur Geltung gekommen
wären, so würde das für Kurhessen wenigstens
den Vorzug gehabt haben, daß sie auf die beson
deren Verhältnisse des Landes berechnet waren
und nicht wie ein fremdes Kleid hätten übergezogen
werden müssen. Indessen, wie fast alles in Kur
hessen, scheiterten auch diese Entwürfe an der
überaus großen vis inertius.
Bereits in Fulda war ich bemüht gewesen, die
juristische Ausbildung der Referendare, die sich
mir näher anschlossen, nach Kräften zu fördern.
In Kassel, wo die Zahl der Referendare weit
größer war, begann ich nun den Winter hindurch
allwöchentlich einmal an einein Abend die Refe
rendare bei mir zu versammeln, um mit ihnen
juristische Fragen, die sie selbst anregen durften,
zu besprechen. Ich hatte die Freude, stets einen
zahlreichen Kreis von Referendaren um mich ver
sammelt zu sehen, und glaube in dieser Tätigkeit
nicht ohne Nutzen gewirkt zu haben.
Bei meiner praktischen Tätigkeit empfand ich
auch das Bedürfnis, mich öfters über einzelne
juristische Materien, die nicht gerade einen höheren
wissenschaftlichen Charakter an sich trugen, aber
doch für die Praxis von Wichtigkeit waren, aus
zusprechen. Ich benutzte dazu die „Annalen der
Justizpflege und Verwaltung in Kürhessen", her
ausgegeben von Heuser,, indem ich in ihnen im
Laufe der Jahre eine Reihe von Aufsätzen unter
dem Titel „Aphoristische Bemerkungen aus der
Praxis", ohne Namensnennung veröffentlichte.
Freunde haben mir später gesagt, ich hätte mit
diesen Aufsätzen mehr genützt, als mit allen meinen
gelehrten Arbeiten; was für letztere nicht gerade
sehr schmeichelhaft war.
Das mit der „neuen Ära" in Preußen er
wachende regere Leben veranlaßte, daß im Jahre
1860 die juristische Gesellschaft in Berlin einen
allgemeinen deutschen Juristentag berief. Auch ich
besuchte ihn, sowie auch den nächstfolgenden, in
Dresden abgehaltenen. Diese ersten Juristentage
wurden an den Orten, wo fie stattfanden, hoch ge
feiert. Irr Berlin ernpfing der Kroirprinz, in
Dresden König Johann die Versammlung. Für
mich war es sehr interessant/ eine große Anzahl
Fachgenossen persönlich kennen zu lernen. -Da
gegen kann ich nicht sagen, daß das ganze Treiben
mir besonders zugesagt hätte. Durch den Einfluß
hervorragender gewandter Persönlichkeiten bekam
der Juristentag sehr bald eine unverkmnbare groß
deutsche Tendenz. Das widerstrebte mir. Hatten
doch wir Kurhessen nach den gemachten Erfah
rungen am allerwenigsten Grund, für Österreich
Sympathie zu empfinden. Als im zweitfolgen
den Jahre (1862) der Juristentag nach Wien
ging (wo er dann ganz besonders gefeiert wurde),
Konnte ich mich nicht entschließen, dorthin zu
folgen. Später habe ich dann noch im Jahre
1871 den Juristentag ' besucht, wozu besondere
Griinde mich veranlaßten. Im allgemeinen bin
ich über den Wert, den der Juristentag für die
allgemeine deutsche Rechtsentwicklung gehabt, nicht
ohne Zweifel.
Für Kurhessen brachte die neue Ära eine neue
politische Bewegung, die in der Wiederherstellung
der Verfassung von 1831 ihr Ziel fand. Damit
traten auch die Gerichte wieder in ihre frühere
Stellung ein. Auch die Gerichtsorganisation ward
in dem früheren Sinne umgestaltet und damit zu
gleich -eine teilweise Umbildung des Zivil- und
Strafprozesses verbunden. Der Zivilprozeß ward
nun im wesentlichen ganz so gestaltet, wie ich es
schon auf Grund des provisorischen Gesetzes von
1851 erstrebt hatte. Jedoch ging man in einer
Beziehung noch weiter. Man gab bei der münd
lichen Verhandlung den richterlichen Vortrag auf
und setzte den vollen Anwaltsvortrag an die
Stelle. Ich selbst hatte dies befürwortet, teils mit
Rücksicht auf die Wünsche der Anwälte, teils auch
einigermaßen getäuscht durch die Lobpreisungen,
mit denen auf den Juristentagen von. gewandten
Rednern die „volle Mündlichkeit" in den Himmel
gehoben war. Zugleich wurde man nun auch den
Anwälten darin gerecht, daß man ihre Gebühren
sachentsprechend erhöhte.
Am 1. Januar 1864 sollte die neue Gerichts
organisation ins Leben treten. Es waren dazu
auch mehrere Mitglieder für das Oberappellations
gericht neu zu ernennen. Ich selbst erhielt im De
zember 1863 eine solche Ernennung. Diese würde
vielleicht beim Kurfürsten unüberwindliche Schwie
rigkeiten gefunden haben, wenn nicht ein zufälliger
Umstand mir zu statten gekommen wäre. Ich hatte
nämlich im Laufe des Jahres 1863 von Frank
furt aus die Anfrage bekommen, ob ich als Ober
appellationsrat nach Lübeck zu gehen bereit sei.