Full text: Hessenland (31.1917)

SMS- 209 SML. 
„Das ist alles, was Ihre Stadt bis jetzt 
getan hat, um sich zum Zentrum der zukünf 
tige Gewerbetätigkeit und der Eisenbahnen zu 
erheben Seit einigen Tagen meinen 
eigenen Geschäften zurückgegeben, atme ich, von 
der undankbaren Stadt entfernt, wieder frei auf. 
Die verlorene Zeit reut mich sehr. Ist sie ganz 
nutzlos in Kassel verschwendet, so werde ich gewiß 
nie unterlassen, der stupidenWidersacher 
des Gemeinwohls überall zu gedenken, wo Preß 
freiheit erlaubt, die verborgenen Ungerechtig 
keiten öffentlich an; den Pranger zu stellen." — 
Von Kassel ist Schmitz 1833 nach Leipzig ver 
zogen. Hier entfaltete damals Friedrich List für 
die Durchführung des ersten großen deutschen 
Eisenbahnprojekts Leipzig—Dresden, gestützt auf 
seine in Amerika gemachten Erfahrungen, eine um 
fassende Tätigkeit. Das Ergebnis war die Eröff 
nung der 120 km langen Strecke im April 1839. 
Schmitz trat, ähnlich wie in Kassel, im „Leipziger 
Tageblatt" mit seinen Ideen für die Aufbringung 
der Geldmittel in die Öffentlichkeit. In àem 
Artikel: „Über die dringendsten Angelegenheiten 
der Eisenbahn" trat er für eine Zinslotterie ein. 
List antwortete ihm am folgenden Tage und führte 
aus, daß „Personen, die ein kompetentes Urteil 
haben, entgegengesetzter Meinung seien. Die drin 
gendste Angelegenheit in dieser Sache sei bereits 
besorgt und werde auch ferner besorgt werden".*) 
Aber auch bei den eigenen Landsleuten, ja sogar 
bei solchen in angesehener Lebensstellung,, erwuchsen 
den Bestrebungen, Kurhessen mit Eisenbahnen zu 
versehen, Mdersacher. 
Zu diesen gehörte der Marburger Professor 
Dr. Lips, der sicher ein tüchtiger Dozent ftir 
Staatswissenschaften gewesen ist, dagegen die 
grundlegenden naturwissenschaftlichen Gesetze, auf 
denen die Technik des Eisenbahnwesens beruht, 
sowie deren Aussichten für die Zukunft nicht 
begriffen hat. Seine 1833 bei Elwert in Mar 
burg erschienene Schrift führt den Titel: „Über die 
Unanwendbarkeit der englischen Eiseàhnen auf 
Deutschland und deren Ersatz durch Dampffuhrwerke." 
Wie schon der Titel sagt, ist sie auf den Ton 
gestimmt: Eines schickt sich nicht für alle — was 
für England paßt, gilt nicht ohne weiteres auch 
für Deutschland. Lips meint, England sei „das 
Land des Kapitalismus, des Handels und Ver 
kehrs, das kommerzielle Wunderland, das Land 
Hes Egoismus und des Eigennutzes, der Eile, 
der Geld- und Zeitersparnis. Verschlucke doch der 
Engländer selbst die Silben seiner Sprache und 
*) Näheres in der Schrift: „Die ersten deutschen 
Eisenbahnen Nürnberg—Fürth und Leipzig - Dresden" 
von Schulze, Leipzig, Verlag Voigtländer. 
gewinne dadurch täglich zwei Stunden mehr als 
alle anderen Leute. Anderwärts in Europa, na 
mentlich in Deutschland, gebe es so etwas nicht, 
es fehle an Verkehr, um das zur Anlage erforder 
liche Kapital zu verzinsen. Lips ist der Ansicht, 
es würde hier in Deutschland vielleicht „mancher 
Dampfwagen wochenlang auf Ladung warten 
müssen,, um die paar hundert Zentner Ware zu 
finden, die er aufnehmen kann und will". 
Das ist derselbe Mangel an Zutrauen, dem 
wir schon bei dem Postmeister Nagler in Berlin 
begegneten, den z. B. auch in Frankreich der 
spätere erste Präsident der Republik, Thiers, also 
ebenfalls ein hochgebildeter Mann, aussprach. Er 
meinte: „Man mag die Eisenbahn den Parisern 
als Spielzeug geben, sie wird nie eine Person, 
nie ein Kolli Gut befördern". Zu verstehen ist 
das Mißtrauen, das. Lips aus der kleinstaatlichen 
Ohnmacht des deutschen Bundes ableitete. Er 
sagt, Deutschland könne deshalb „nie derart Großes 
leisten und auch keine Eisenbahn bauen". Sein 
Ideal ist für Deutschland der von dem Engländer 
Church erfundene Dampfwagen auf Chausseen. Er 
meint, die Eisenbahn „sei nur eine Durchgangs 
station gewesen, der Dampfwagen habe sie über 
flügelt, die Schienen seien eine Art Faulenzer und 
Eselsbrücken, um keine für Chausseen geeignete 
Dampfwagen bauen zu müssen. Das Landstraßen 
dampffuhrwerk wird alles überflügeln. Durch die 
Anlage einer Eisenbahn geht eine Menge Grund 
und Boden für den eigentlichen Zweck der Körner 
gewinnung verloren". Lips hält auch in Anleh 
nung an das angeführte Gutachten des bayrischen 
Obermedizinalkollegiums „die Eisenbahn für eine 
für das Leben sehr gefährliche Vorrichtung". Des 
halb sei der Straßendampfwagen das vollkom 
menste Fuhrwerk, aber „er gehöre auf die Land 
straße, auf einer Eisenbahn würde er sich zu rasch 
bewegen, er würde sich gleichsam überschlagen, 
überstürzen". Dieses wird näher erklärt in folgen 
dem grotesken Satz: „Eine Bewegung derart würde 
kein Fahren, ja nicht mal mehr ein Fliegen sein. 
Sie würde ein Schießen im eigentlichen Sinne 
des Wortes sein, die man gar nicht mehr leiten 
und- unterbrechen kann." 
Man muß unwillkürlich fragen, ob der Herr 
Professor in Marburg beim Befahren der zum Teil 
sehr steilen Straßen Marburgs niemals eine 
Bremse an einem Wagen gesehen hat. Er meint, 
jedes Ding muß seine Grenze haben, wenn es 
sich nicht selbst vernichten will, wie z. B. hier die 
Wagenachsen bei einer solchen Rotation geschmol 
zen und selbst die Eisenbahn in einen sprühenden 
Feuerstrahl verwandelt werden würde, schließlich 
wird man ganz zu genießen aufhören, nur noch
	        

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