Full text: Hessenland (31.1917)

Auflage erschienenes Geschichtsbild „Das frühere 
Kurhessen", das es sich zur Aufgabe machte, neben 
einer wertvollen Schilderung des alten Kurhessens 
die Ursachen seines Untergangs zu zeigen. Daneben 
aber wird seine 1884 in erster, 1886 in zweiter 
Auflage erschienene kulturgeschichtliche Skizze „Eine 
deutsche Stadt vor sechzig Jahren", die uns fein 
sinnig und gemütvoll das Kassel der Biedermeier 
zeit so köstlich zu schildern versteht, als typische 
Charakteristik deutschen Kleinstadtlebens für alle 
Zeiten Wert und Geltung behalten. 
Am 17. Februar 1895 schied Otto Bähr aus 
einem gesegneten Leben. Nach seiner Übersiedlung 
aus Fulda bewohnte er mit den Eltern ein neben 
der Renterei belegenes Haus in der alten Leipziger 
Straße, seit 1825 das Freihaus am Klosterplatz. 
Nach seiner Rückkehr aus Leipzig wohnte er im 
Waitzschen Haus am Opernplatz, aus dem er auch 
zu Grabe getragen wurde. 
Wie in seiner „Deutschen Stadt" hat er auch in 
seinen 1898 als Mannskript gedruckten Lebens 
erinnerungen das bürgerliche Leben Kassels während 
seiner Kindheits- und Jünglingsjahre getreu ge 
spiegelt. Diese Erinnerungen, in denen Bähr auch 
über seine juristische Entwicklung und sachwissen- 
schaftliche Tätigkeit eingehend Rechenschaft ablegt, 
können wir nachfolgend mit gütiger Erlaubnis von 
Otto Bährs Tochter, Frau Geheimrat Pfeiffer, 
unsern Lesern vorführen. 
Erinnerungen aus meinem Leben. 
Von Otto Bäbr. 
Mein Vater Johannes Bähr war am 4. Au 
gust 1764 in Ziegenhain als Sohn des dortigen 
Stadtrezeptors geboren. Seine Großeltern waren 
Bauern in dem Dorfe Todenhausen bei Ziegen- 
hain gewesen. Mein Vater hatte viele Geschwister. 
Einer seiner- Brüder war Pfarrer in Friedewald, 
starb' aber weit früher als mein Vater. Ich habe 
ihn nicht mehr gekannt. Er hinterließ mehrere 
Söhne. Einer dieser Söhne, Wilhelm Bähr, mein 
Pate, war anfangs Theologe gewesen, wurde dann 
aber Offizier und Lehrer im 'Kadettenhaus und 
starb'als Oberst und Kommandant des Jnvaliden- 
hauses in Karlshafen. Er war meinen Eltern, 
namentlich meiner Mutter, widerwärtig wegen 
seiner reaktionären Gesinnung, die ihm dann auch 
zu einer traurigen Berühmtheit in der hessischen 
Ständeversammlung (wo er Vertreter eines „Stan 
desherrn" war) verhalf. Ein anderer Sohn des 
Pfarrers Bähr war als Kaufmann nach England 
gegangen und hat Söhne hinterlassen. Ich ver 
mute, daß ein jetzt in Liverpool befindlicher deut 
scher Konsul Namens „Bähr" einer dieser Söhne 
ist. Was aus den übrigen Geschwistern meines 
Vaters geworden ist, weiß ich nicht. 
Mein Vater hatte eine geringe Erziehung ge 
nossen. Nach der Konfirmation war er, wie es da 
mals üblich war, zu einem Chirurgen in die Lehre 
gekommen. Später hatte er es möglich gemacht, 
einige Jahre in Marburg zu studieren. Schon im 
Jahre.1783 wurde er als Eskadron-Chirurg im 
Dragonerregiment Prinz Friedrich (in Gewänden 
bei Marburg) angestellt. Als solcher machte er in 
den Jahren 1793—95 die Feldzüge in den Nieder 
landen mit. In Gemünden verheiratete er sich 
auch. Im Jahre 1798 wurde er Regimentsarzt 
und- kam nach Gudensberg. Hier wurden meine 
Geschwister Sophie (1800), Wilhelm und Hann- 
chen (1808) geboren. Neben seiner Diensttätig 
keit hatte mein Vater in Gudensberg und der 
Umgegend eine ganz hübsche Praxis. Er sparte 
sich damals das erste kleine Kapital, das er. in 
Niedervorschütz auslieh. (Ich selbst habe es später 
erst eingezogen.) Als nun im Jahre 1806 die 
kurhefsische Regierung zusammenbrach, war ihm 
das französische Wesen so zuwider, daß er sich 
nicht entschließen konnte, - in westfälische Dienste 
zu treten, sondern als praktischer Arzt in Gudens 
berg wohnen blieb. 
Ich will hier gleich erwähnen, daß mein Vater 
zwar kein Gelehrter, aber ein sehr beobachtender 
und -vorsichtiger Arzt war. Viele hatten daher 
großes Vertrauen zu ihm. Er hatte auch einen 
sehr guten praktischen Blick. Ich erinnere mich, 
daß, als in den zwanziger Jahren ein Oberst 
leutnant v. Hesberg durch einen Sturz vom Pferde 
eine schwere Armverletzung sich zugezogen hatte, 
alle übrigen Ärzte sagten: „Der Arm ist gebro 
chen". Mein Vater aber sagte: „Der Arm ist 
nicht gebrochen, sondern nur aus dem Gelenk ge 
fallen". Und schließlich ergab sich, daß mein Va 
ter recht hatte. Mein Vater bombardierte auch nicht 
(wie es damals allgemein Mode war) die Men 
schen mit vieler Medizin, sondern verschrieb nur 
wenig, und wo möglich wohlfeile Arzneien. Die 
Apotheker waren deshalb wütend auf ihn. Ob 
wohl äußerst sparsam, war er doch als Arzt nicht 
habgierig. Ich weiß noch, daß öfters, wenn ein 
geringer Mann zu ihm kam und sich ein Rezept 
verschreiben ließ, er auf dessen Frage: „Was bin ich 
denn schuldig?" antwortete: „Ich will nichts haben." 
Kurz nach der Geburt von Hannchen war ihre 
Mutter gestorben. Ich vermute, daß das dazu bei-
	        

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