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Vierzig Jahre aus dem Leben eines Toten?)
Aufzeichnungen eines Offiziers aus Frankfurt am Main.
Ich sage es vorweg: dies ist eines der unter
haltendsten, fesselndsten, in seiner Art bedeutendsten
Memoirenwerke, das mir je vor Augen gekominen
ist. Zugegeben, daß der Verfasser seine unend
lichen Liebesabenteuer mit größter Selbstgefällig
keit herauszustellen beflissen ist, der Wert seiner
Aufzeichnungen offenbart sich in der realistischen,
rücksichtslos wahren Schilderung einer vergangenen,
merkwürdigen Epoche und in der vollendeten Zeich
nung der Charaktere, wie sie sich mit Natur
notwendigkeit in diesem Zeitabschnitt entwickeln
mußten. Läßt man die weit ausgesponnenen Denk
würdigkeiten objektiv auf sich wirken, erkennt man
darin bei aller Zügellosigkeit des Autors, bei all
seinem Bekenntnisdrang in Rousseauscher Manier
ein energisches Frontmachen, eine glänzend auf
gebaute Reaktion gegen die Kultur, der das Siegel
des Napoleonismus aufgeprägt war.
Im Sommer 1789, zu einer Zeit, da die ersten
Fcuersäulen der französischen Revolution ihren
blutroten Schein über die Lande werfen, erblickt
Frölich, der Memoirenschreiber (mit seinem wahren
Namen heißt er Friedrich), zu Frankfurt am Main
das Licht der Welt. Dem helläugigen Jungen
begegnen die französischen Emigranten, die die
deutsche Gastfreundschaft und Gutmütigkeit mit
Lümmeleien und Frechheiten erividern. In Frank
furt hatten sie unter der Judenschast willige Geld
geber gefunden. Frölich schildert das Frankfurter
Ghetto: „Diese braun und schwarz geräucherten
Häuser gewährten einen grausigen Anblick und
waren wahre mit Schmutz angefüllte Kloaken. Die
Juden waren gezwungen, kleine Mäntel mit einem
gelben Läppchen zu tragen, damit man sie schon
von weitem als solche erkennen konnte, sie hatten
sämtlich ein höchst elendes, kränkliches Aussehen,
eine braungelbliche Hautfarbe, und waren fast alle
mit ekelhaften Krankheiten und der Krätze be
haftet, die natürlichen Folgen des Einsperrens in
ungesunder Luft." — Die französischen Revolutions-
Heere überfluteten die deutschen Gaue. In Rhein
hessen wurden Freiheitsbäume aufgepflanzt, und
die französischen Soldaten ermunterten, ja zwangen
das Volk, drumherum zu tanzen. Man gewahrte,
daß ehrbare Kaufleute, Kapuziner, Magistrats
personen, Nonnen und Mönche in allen Farben,
wie durch Oberons Horn toll gemacht, die selt
samsten Bocksprünge vollführten. In dieser tur
bulenten Zeit empfindet der junge Frölich den
Zwang der Schule doppelt lästig. In Homburg
wird unter der Obhut seiner Verwandten der Ver
such gemacht, ihm einige Kenntnisse beizubringen.
Er entwickelt sich als Pousseur, spielt Theater
und faßt — ein zweiter Wilhelm Meister — den *)
*) Vierzig Jahre aus dem Leben eines Toten, 9
Bände, Berlin bei Fleischet & Co.
Entschluß, Komödiant zu werden. Auf der Stelle
brennt er durch, fährt nach Weimar, um Goethe
für seinen Plan zu gewinnen. „Er sah der Frau
Rat, seiner Mutter, ähnlich, war von ziemlich
hoher Starur, kam mir etwas breitschultrig vor,
trug das Haupt hoch, und in seinen Mienen drückte
sich ein mich abschreckender Ernst, ja sogar Strenge
aus. Die ganze Figur kam mir steif und ab
gemessen vor, und vergeblich suchte ich in seinem
Gesicht einen Zug, der.mir den Verfasser von
Werthers Leiden oder Wilhelm Meisters Lehr
jahren verraten hätte." Stockend und stotternd
bringt Frölich sein Anliegen vor, Goethes Gesicht
verfinstert sich, verfinstert sich noch mehr, als er
erfährt, daß die Lektüre des Wilhelm Meister den
Jüngling zu diesem Geniestreich angeregt habe.
Er erkundigt sich, wo sein Landsmann abgestiegen
sei, sagt ihm, er solle einstweilen in seinem Gast
hof bleiben, er werde das weitere schon hören.
Frölich begibt sich darauf zu Schiller, der ihn sehr
freundlich aufnimmt und dem er Ferdinands Mono
log „Verloren, ja Unglückselige", ferner ein Stück
aus der Glocke vorträgt. „Sie sind allerdings
nicht ohne Talent für die Kunst", gibt Schiller
sein Urteil ab, „wenn Sie es an Mühe nicht fehlen
lassen, so können Sie es weit bringen, ich will
mit Goethe sprechen, der allein kann hier etwas
für Sie tun." Goethe hatte einen minder guten
Eindruck von dem Theateraspiranten gewonnen.
Er schrieb nach Frankfurt, man möge sich beeilen,
den Ausreißer einzufangen. Sehr bald erschien
denn auch der Onkel Oberpfarrer in Weimar und
nahm den „heillosen Strick" mit nach Hause.
Dieser gibt nun sein Theatergelüste auf und wird
mit Bewilligung seiner Eltern als Offiziers
anwärter in ein französisches Regiment eingestellt,
das in Mainz unter der Ägide eines deutschen
Fürsten kombiniert und ausgebildet werden sollte,
um später nach Frankreich zu marschieren. Rasch
wird seine militärische Begabung offenbar. Zum
Unterleutnant befördert, lernt er Land und Leute
in Frankreich kennen. In Toulon sieht er auf den
Galeeren Geistliche, einen ehemaligen Bischof, hohe
Militärchargen, zwei Generäle, Richter, Notare,
Kriegskommissare, Ärzte, Künstler, Handwerker,
Bauern und Taglöhner aneinander geschmiedet:
alle hatten Verbrechen der gröbsten Art begangen.
Von Toulon gelangt unser Held nach Genua.
Hier stöbert er im Gedenken an Schillers Fiesko
einen Grafen dieses Namens auf, der aus seine
begeisterte Anrede erwidert: „Ma Signor Uffiziale,
non capisco niente, Cosa e questo Skiller?“ Un
geachtet seines Dienstes findet Frölich Zeit, sein
musikalisches Talent zu pflegen, er hat eine gute
Stimme und macht die entzückten.Genueserinnen
mit Mozarts Don Juan bekannt. — Die Belage
rung von Gaeta gibt ihm Gelegenheit, sich im