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Selbständigkeit des Kurstaates verlegen. Denn
nicht Einheit oder Zersplitterung
standen sich hier gegenüber, wie eine verkehrte Zu
spitzung der Fragstellung will, sondern die Frage,
ob Einigung der deutschen Gesamtheit unter Be
seitigung dynastischer Zusallsgebilde, oder Schaf
fung eines Bundesstaates 3 ) mit Unterordnung aller
der Einzelgebilde, soviel eben zur Unterordnung
zu bringen. — Denn das war recht eigentlich die
Fragestellung im Volke, der Unterschied zwischen
„großdeutsch" und „kleindeutsch". Nur daß die
Vertreter der ersteren Idee, die Demokraten, keine
der alten Gewalten auf ihrer Seite hatten, während
die Kleindeutsch-Liberalen, die Vertreter des Bun
desstaates, in Preußen ihre Stütze fanden. Der
Konservatismus der Kabinette, an deren Spitze
Österreich, sowohl jenes Metternichs als das
Schwarzenbergs stand, und dem auch die Person
Friedrich Wilhelms IV. von Preußen zuneigte,
wünschten gleichwohl den Staaten bund,
Schwarzenberg forderte auch die damals denkbar
weitgehendste Form einer solchen deutschen Neu
gestaltung, — nur lehnten s i e jede Teilnahme
des Volkes an dem deutschen Staatsleben, jede
tiefgreifende Reform ab, wenn schon auch bei
ihren Entwürfen die Vereinigung' der Masse der
Zufallsstaaten zu größeren Bundesstaaten wieder
kehrt.^) Für Kurhessen spitzte sich diese Frage in
der Weise zu, daß einmal die Demokratie ent
schieden den Gedanken der Vereinigung beider
Hessen — zeitweilig ward sogar die Person des
späteren Großherzogs Ludwig III. als die gegebene
monarchische Spitze genannt — vertrat, außerdem
sollte noch Frankfurt und Hessen-Homburg mit
in diese Organisation hineingezogen werden, —
auch die Regierungen beider Hessen selbst arbei
teten zeitweilig miteinander, wenigstens im Jahre
1850 die konservativen Ministerien Hassenpflug
und Dalwigk, und der österreichische Entwurf
Schwarzenberg-Brucks sah eine enge Gemeinschaft
beider Hessen vor, — während die Liberalen in
der Zeit des Parlaments für den Gagernschen Ent
wurf und nach der Ablehnung der deutschen Kaiser
krone durch Friedrich Wilhelm IV. von Preußen
für Dreikönigsbündnis und Union eintraten. Und
so entsteht das 'sonderbare Bild, daß dieselben
Liberal-Konstitutionellen, die der Einheitlichkeit das
Wort reden, die gegen die Kleinstaaterei ankämpfen,
mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln sich
dem Gedanken der Vereinigung beider Hessen wider
setzen, „der Henkel" nannte es in seiner burschi
3 ) Man vergleiche hierzu Kant, „Zum ewigen Frieden"
(Leipzig, Reclam), S. 17 f. über den „Bölkerstaat".
*) H. Friedjung. Österreich 1848—1860. II * * S. 25 sf.
(Stuttgart 1912).
kosen Sprache das „Unnerstoppen", — sich aber
für den Anschluß an die „Union" einsetzten, den
doch selbst Sylvester Jordan als Mediatisierung
bezeichnet, und wogegen er des Kurfürsten Wider
stand als „sehr begreiflich" erachtete. 3 )
Was, wenn man jene Einflüsse der deutschen Poli
tik in der Betrachtung zurücksetzt, in der eigentlich
hessischen Verfassungsfrage — so sehr ja die deutsche
Frage mit hineinspielt — den Wendepunkt der Ge
schicke darstellt, ist der Zeitpunkt, da die Stände
wahlen nach der ersten Steuerverweigerung eine —
ohne Zweifel der Stimmung des Landes ent
sprechende — demokratische Mehrheit (trotz
des plutokratischen Wahlgesetzes von 1849) ergaben.
Damals hätte es in der Hand Kurfürst Friedrich
Wilhelms I. gelegen, zu jenem Mittel zu greifen,
das einst sein Ahn, Hermann der Gelehrte, im
Kampfe mit dem Kasseler Patriziate anwandte, wie
jener die Verfassung der Gilden brach und dem
Volke den Eintritt erzwang und mit den demo
kratisierten Zünften eine neue Form der Landes
herrschaft sicherte, so hätte hier nur eine Entlassung
des unmöglich gewordenen Ministeriums Hassen
pflug und der Übergang zur parlamentarischen Re
gierungsform, eben die Berufung eines demo
kratischen Ministeriums helfen können.
Das liberal-konstitutionelle war ja an sich schon
unmöglich geworden und nach eigentlich ununter
brochener Krise gegangen. — An Hinweisen in diesem
Sinne hat es auch Bayrhoffer nicht fehlen lassen, und
die Haltung seiner Gruppe, die die Staatsmaschine
nicht einer Personenfrage wegen zum Stillstände
bringen wollte, spricht ja deutlich genug dafür.«) —
Daß die kurfürstliche Regierung weder diesen noch
den Weg der nackten Gewalt (der an sich der näher
liegende, aber auch schwierigste war) ging, sondern
trotz Festhaltung des Ministeriums Hassenpflug
noch bei Anwendung des Belagerungszustandes
mit Halbheiten vorging, bis die Wellen ihr über
dem Kopfe zusammenschlugen, bis zu der (flucht
ähnlichen) Verlegung der Regierung nach Wil
helmsbad, lag in der Person des Kurfürsten selbst
gegründet?)
Ob man Freund oder Gegner seiner Regierung
ist, d. h. heute, ob man die von ihm eingeschlagenen
Wege für richtig oder falsch erachtet, wir können
ihm das Prädikat nicht versagen, daß er eine
3 ) E. v. Goeddaeus. Aus dem Leben des Kurfürsten
Friedrich Wilhelm von Hessen (Kassel 1883), S. 39.
«) Vergl. Ztschr. d. V, f. h. G., Bd. 47, S. 198 ff.
7 ) Dieselbe Unentschlossenheit in der deutschen Frage,
der Wunsch, einen Mittelweg zu gehen, war wohl auch
der Anlaß zu den bitteren Äußerungen Schwarzenbergs
an Thun und Prokesch-Osten, die H. Friedjung mit
teilt. (Österreich 1848—1860, II 1 , S. 88.)