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reichten? Bis ans Ende der Welt. Und jeder
legte das Ghr an die Telegraphenstange und ver
meinte die Stimme der Ferne zu vernehmen und
sah staunend dem Draht entlang, ob nicht etwa
die Worte gelaufen kämen. Da war einer, der
am Bahnhof schon öfter zu dem großen Fenster
hineingeschaut, der erzählte, dort ständ ein Mann
mit einer roten Mütze an einem goldenen Rad
und ziehe an einem Papierstreifen, der habe kein
Ende. Jedenfalls komme der aus dem Drahte
heraus. Darauf ständen die Depeschen geschrieben.
Die Sache blieb uns rätselhaft.
Am Straßenübergang stand ein kleines nettes
Häuschen. Ein Gärtchen hegte es ein, wie es sich
Kinder wünschen, mit kleinen Beeten und einer
niedlichen Laube. Ein über und über blühendes
Kirschbäumchen schaute über den Zaun, wie von
Engelshänden dahingestellt. Tn dem Häuschen
bewegte sich ein Mann mit einer Soldatenmütze.
Von Zeit zu Zeit erschien sein bärtiges Gesicht vor
dem Guckfenster. Jeder wünschte an seiner Stelle
zu sein. So dicht an der Eisenbahn zu wohnen,
wie herrlich mußte das doch fein, jede Stunde auf
Wunder warten, um es dann endlich vorbeisausen
zu sehen!
Eine ganze Weile bestaunten wir so das rätsel
haft Neue. Da ging die Türe auf, und der Bahn
wärter trat hastig heraus, drehte an einem Ge
winde, und siehe da: der lange Arm, der sich so
hoch gereckt, legte sich quer über die Straße, als
wollte er sagen: Hier lasse ich keinen durch.
„Jetzt kommt er, jetzt kommt er", rief es her
und hin. Große Erregung bemächtigte sich meiner.
Ich ergriff die Hände zweier Kameraden. Nun
hörte man das deutlich: vom Walde her schwoll
ein Sausen und Brausen. Das war dasselbe
Getöse, das in den stillen Sommerabenden heraus
drang bis vor unsere Tür, wenn sich die Nachbarn
nach getaner Arbeit auf ein Stündchen sammelten
zu einem Wort über den Tag und sein Geschehnis.
Und wir Kinder faßen stumm dabei und lauschten
in die Sterne hinaus über der Linde und dem
Kirchturm, die asies sahen und hörten, auch die
Eisenbahn.
Ein gellender Pfiff ließ mich zusammenfahren.
„Jetzt hält er", sagte ein Wissender. „Gleich
pfeist's wieder, dann kommt er vorbei."
Nach wenigen mit größter Ungeduld gespickten
Minuten rückte endlich das Ereignis heran. Die
Schienen knackten, das Häuschen bebte, der Mann
stand stramm wie ein Soldat. Das Kirschbäumcheu
zitterte, und wir mit. Ein dampfendes, zischendes,
kreischendes Ungeheuer, das einem Sehen und
Hören nahm. Auf schwarzem Throne ein rotes
freundlich nickendes Männergesicht. Wagen hinter
Wagen mit blinkenden Spiegeln, in jedem Lachen,
Winken, Grüßen. Dann ein paar schwarze Kasten
wie Totenladen. Das alles auf luftig rollenden
Rädern. Das war also die Eisenbahn.
Froh aufatmend schauten wir der klappernden,
plappernden Eisenschlange nach. Daß sie nicht aus
gewiesenem Wege wich, war uns das Wunderbarste.
Da reckte sich auch schon der Schlagbaum wieder
hoch, ein Wagen, der drüben hielt, hatte freie Fahrt.
Der Bahnwärter schwand in seinem Häuschen, und
wir, um ein Ereignis reicher, besannen uns auf
unser Ziel.
Der Kirchenjunge nahm einen Beherzten mit
sich, seinen Auftrag im Gutshofe zu erledigen.
Derweil rasteten die übrigen am Eingang des
Städtchens auf der Kirchhofsmauer.
Hügelansteigend, von Tannen umtrauert, liegt
der kleine Friedhof zwischen Bahn und Fluß, ein
Ruhehafen mitten in der Unruhe. Tm Schatten
einer ehrwürdigen Linde rastend, erfreuten wir
uns an den Narzissen und Aurikeln, die um be
mooste Male glühten. Hier sollten Nachtigallen
singen. Der eine und andere wollte auch schon
einen Ton vernommen haben, aber sie waren wohl
noch nicht da.
Nachdem die Geheimnisse des heiligen Haines
erforscht waren, lockte die nahe Diemelbrücke. Tn
das tosende Mühlwehr könnte man so den ganzen
Tag schauen. Gtten Fritz, der immer mehr sah,
als andere, hatte einen Stockfisch entdeckt. Sein
Kopf reichte vermutlich bis in die Weser, während
der Schwanz in Marburg schwamm. Weil er
steif wie ein Stock immer auf derselben Stelle
blieb, glaubte ihn jeder zu erkennen, und manch
kühner Schluß auf die Größe und Gewalt der
Fische im Meere behauptete sich.
Endlich kehrte der Kirchenjunge zurück, und wir
machten uns auf den Heimweg. Voll von den
neuen Eindrücken schritten wir in lebhafter Unter-
Haltung, nichts Schlimmes ahnend, Hügelauf. Als
wir ins Saffental abstiegen, hagelte es plötzlich
aus einem Dornbüsche. „Die Zwerger", kam es
wie aus einem Munde. Jeder suchte Deckung.
Und da es rings an Steinen nicht fehlte und in
verschiedenen Händen die Schleuder klar wurde,
bekamen die Feinde bald Antwort, die manch
einen zwang, sein Versteck zu verlassen, um wald
wärts zu flüchten.
Auf einmal schrie Gtten Fritz laut auf. Sein
Weißkopf färbte sich rot, und ein Blutstrom lief
ihm zur Wange herab in den weißen Hemdkragen.
Das mußte gerächt werden. Tn rasendem Lauf
wurden die Feinde von Busch zu Dusch höher und
höher getrieben, bis sie auf einmal zu aller Ver-
wundemng das Feuer einstellten. G weh! Wir