Full text: Hessenland (30.1916)

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reichten? Bis ans Ende der Welt. Und jeder 
legte das Ghr an die Telegraphenstange und ver 
meinte die Stimme der Ferne zu vernehmen und 
sah staunend dem Draht entlang, ob nicht etwa 
die Worte gelaufen kämen. Da war einer, der 
am Bahnhof schon öfter zu dem großen Fenster 
hineingeschaut, der erzählte, dort ständ ein Mann 
mit einer roten Mütze an einem goldenen Rad 
und ziehe an einem Papierstreifen, der habe kein 
Ende. Jedenfalls komme der aus dem Drahte 
heraus. Darauf ständen die Depeschen geschrieben. 
Die Sache blieb uns rätselhaft. 
Am Straßenübergang stand ein kleines nettes 
Häuschen. Ein Gärtchen hegte es ein, wie es sich 
Kinder wünschen, mit kleinen Beeten und einer 
niedlichen Laube. Ein über und über blühendes 
Kirschbäumchen schaute über den Zaun, wie von 
Engelshänden dahingestellt. Tn dem Häuschen 
bewegte sich ein Mann mit einer Soldatenmütze. 
Von Zeit zu Zeit erschien sein bärtiges Gesicht vor 
dem Guckfenster. Jeder wünschte an seiner Stelle 
zu sein. So dicht an der Eisenbahn zu wohnen, 
wie herrlich mußte das doch fein, jede Stunde auf 
Wunder warten, um es dann endlich vorbeisausen 
zu sehen! 
Eine ganze Weile bestaunten wir so das rätsel 
haft Neue. Da ging die Türe auf, und der Bahn 
wärter trat hastig heraus, drehte an einem Ge 
winde, und siehe da: der lange Arm, der sich so 
hoch gereckt, legte sich quer über die Straße, als 
wollte er sagen: Hier lasse ich keinen durch. 
„Jetzt kommt er, jetzt kommt er", rief es her 
und hin. Große Erregung bemächtigte sich meiner. 
Ich ergriff die Hände zweier Kameraden. Nun 
hörte man das deutlich: vom Walde her schwoll 
ein Sausen und Brausen. Das war dasselbe 
Getöse, das in den stillen Sommerabenden heraus 
drang bis vor unsere Tür, wenn sich die Nachbarn 
nach getaner Arbeit auf ein Stündchen sammelten 
zu einem Wort über den Tag und sein Geschehnis. 
Und wir Kinder faßen stumm dabei und lauschten 
in die Sterne hinaus über der Linde und dem 
Kirchturm, die asies sahen und hörten, auch die 
Eisenbahn. 
Ein gellender Pfiff ließ mich zusammenfahren. 
„Jetzt hält er", sagte ein Wissender. „Gleich 
pfeist's wieder, dann kommt er vorbei." 
Nach wenigen mit größter Ungeduld gespickten 
Minuten rückte endlich das Ereignis heran. Die 
Schienen knackten, das Häuschen bebte, der Mann 
stand stramm wie ein Soldat. Das Kirschbäumcheu 
zitterte, und wir mit. Ein dampfendes, zischendes, 
kreischendes Ungeheuer, das einem Sehen und 
Hören nahm. Auf schwarzem Throne ein rotes 
freundlich nickendes Männergesicht. Wagen hinter 
Wagen mit blinkenden Spiegeln, in jedem Lachen, 
Winken, Grüßen. Dann ein paar schwarze Kasten 
wie Totenladen. Das alles auf luftig rollenden 
Rädern. Das war also die Eisenbahn. 
Froh aufatmend schauten wir der klappernden, 
plappernden Eisenschlange nach. Daß sie nicht aus 
gewiesenem Wege wich, war uns das Wunderbarste. 
Da reckte sich auch schon der Schlagbaum wieder 
hoch, ein Wagen, der drüben hielt, hatte freie Fahrt. 
Der Bahnwärter schwand in seinem Häuschen, und 
wir, um ein Ereignis reicher, besannen uns auf 
unser Ziel. 
Der Kirchenjunge nahm einen Beherzten mit 
sich, seinen Auftrag im Gutshofe zu erledigen. 
Derweil rasteten die übrigen am Eingang des 
Städtchens auf der Kirchhofsmauer. 
Hügelansteigend, von Tannen umtrauert, liegt 
der kleine Friedhof zwischen Bahn und Fluß, ein 
Ruhehafen mitten in der Unruhe. Tm Schatten 
einer ehrwürdigen Linde rastend, erfreuten wir 
uns an den Narzissen und Aurikeln, die um be 
mooste Male glühten. Hier sollten Nachtigallen 
singen. Der eine und andere wollte auch schon 
einen Ton vernommen haben, aber sie waren wohl 
noch nicht da. 
Nachdem die Geheimnisse des heiligen Haines 
erforscht waren, lockte die nahe Diemelbrücke. Tn 
das tosende Mühlwehr könnte man so den ganzen 
Tag schauen. Gtten Fritz, der immer mehr sah, 
als andere, hatte einen Stockfisch entdeckt. Sein 
Kopf reichte vermutlich bis in die Weser, während 
der Schwanz in Marburg schwamm. Weil er 
steif wie ein Stock immer auf derselben Stelle 
blieb, glaubte ihn jeder zu erkennen, und manch 
kühner Schluß auf die Größe und Gewalt der 
Fische im Meere behauptete sich. 
Endlich kehrte der Kirchenjunge zurück, und wir 
machten uns auf den Heimweg. Voll von den 
neuen Eindrücken schritten wir in lebhafter Unter- 
Haltung, nichts Schlimmes ahnend, Hügelauf. Als 
wir ins Saffental abstiegen, hagelte es plötzlich 
aus einem Dornbüsche. „Die Zwerger", kam es 
wie aus einem Munde. Jeder suchte Deckung. 
Und da es rings an Steinen nicht fehlte und in 
verschiedenen Händen die Schleuder klar wurde, 
bekamen die Feinde bald Antwort, die manch 
einen zwang, sein Versteck zu verlassen, um wald 
wärts zu flüchten. 
Auf einmal schrie Gtten Fritz laut auf. Sein 
Weißkopf färbte sich rot, und ein Blutstrom lief 
ihm zur Wange herab in den weißen Hemdkragen. 
Das mußte gerächt werden. Tn rasendem Lauf 
wurden die Feinde von Busch zu Dusch höher und 
höher getrieben, bis sie auf einmal zu aller Ver- 
wundemng das Feuer einstellten. G weh! Wir
	        

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