Ahnung von Heiligtümern durch die Seele zog,
die uns das Leben noch aufbewahrt hatte. Bilder
bücher gab's spärlich, und die Lieder sang die
Mutter. All' die lieben, alten Lieder, und lustiges
Kauderwelsch kam von der Gasse mit dazu. Von
der Gasse? Jawohl, von der Gasse! Denn die
Kinder von Lenzbach spielten alle miteinander ohne
Unterschied des Geschlechtes und des Standes.
Höchstens teilten sie sich in Welf und Waibling —
in Gber- und Unterstädter oder in andere zeit
gemäße Parteien.
Auf der Gaffe habe ich mancherlei gelernt. Ich
sah da, wie wenig man braucht, um glücklich zu
sein, daß ein Stück Brot, mit gelbem Leinöl be
strichen, ebenso gut, manchmal besser schmeckt als
Honigbrot. Auch lernte ich, wie leicht man Freude
schenken kann — und dann sah ich das Elend —
das Unglück bei Zeiten oft ganz in der Nähe —
das war sehr lehrreich.
Und dann das Theater?
Könnt ihr euch denken, daß man aus einem
Gartentisch unter einer alten Esche eine Trojaburg
machen kann? Ja, man kann es mit einer ge-
funden Kinderphantasie und wenn man Lehrer
mit weltweitem Sinn hat.
Man kann auch eines Pfarrers Sohn sein,
einen Sammetanzug haben und doch als Hektor
geschleift werden zum größten Jubel und Glück
seliger Kinder und zum Entsetzen guter Tanten
und anderer Leute. Es gab auch damals zum
Schluß Beweise mit schlagenden Gründen für das
Unstatthafte solchen Tuns. Aber nun gibt es
auch wundervolle Erinnerungen, an denen heute
noch alte Leute zehren. Und was spielten wir
ferner! Einmal haben wir um ein Haar eine
Scheune in Brand gesteckt, denn die zwei Talg-
lichte, die wir Mamsell Dortchen abgebettelt hatten,
weil wir sie zu der Szene vom Acht und Bann im
„Ernst von Schwaben" brauchten, fielen brennend
um. Aber der Schutzengel löschte sie wohl aus.
Auch Karls des Großen Schwert besaßen wir.
Es war eine alte Waffe — wir hätten uns leicht
daran schneiden können, ©bett, auf einem ver
lassenen, dämmrigen Boden, da waltete die heilige
Vehme ihres Amtes, manchmal derbe und un-
barmherzig, denn unser oberstes Gesetz hieß: „Weh
dem, der lügt oder hetzt."
Wir gehörten nicht zu den wohlanständigen
Kindern, wir waren ungezogene Kinder. Das ist
gesund, sagte unsere alte Tante, die immer auf
unserer Seite war. „Artige Kinder sind meist
krank", setzte sie nachdenklich hinzu. Auch eine
gewisse Roheit der Gefühle kam bei uns zum
Durchbruch, denn wir haben oft genug einen alten
armen Gnkel, der in der Dämmerung uns be-
suchte, veranlaßt, sein Gläschen Franzbranntwein
auf die Schieferplatte unseres Tisches zu schütten
und anzustecken. Was gab das für eine herrliche
blaue Flamme! Noch schöner gestaltete sich die
Sache, wenn der Branntwein auf einen Bogen
„Didaskalia" geschüttet wurde. Dann flammte
es hell auf. „Das ist die feurige Zunge des
heiligen Geistes", sagte der Alte, und wenn sich
die „Didaskalia" dann mit einem Male beim Ver-
löschen zu einem schwarzen, runden Ding zusammen
krümmte, auf dem kleine Fünkchen aufblitzten und
verlöschten, dann rief er: „Seht, das find die
Leute, die ihr Heil suchen, das find Kirchgänger."
Wie wir guckten und lauschten, bis das letzte
Knistern verklungen war und das letzte Fünkchen
verlosch. Ja, die letzten Fünkchen, das waren der
Pastor und der Küster, der die Tür schloß.
Einmal wollten wir eine Sammlung anlegen,
es war damals Mode geworden. Da fragten
wir den alten Mann, der uns seinen Branntwein
geopfert, und er sagte: „Sammelt des Wasser
des Lebens, den Stein der Weisen und die blaue
Blume der Poesie. Wenn ihr die drei beisammen
habt, dann habt ihr eine feine Sammlung. Aber
laßt euch sagen: das Wasser des Lebens ist etwas
salzig, der Stein der Weisen sehr spröde, und die
Blume der Poesie verwelkt leicht, wenn man sie
falsch behandelt." Merkwürdigerweise ist es einigen
dieser Lenzbacher Kinder gelungen, eine solche
Sammlung zustande zu bringen.
Glückliche Kinder, die aufwachsen konnten, ohne
daß man pädagogische Versuchskaninchen aus ihnen
machte. Keiner mühte sich ab, ihnen krampfhaft
beizubringen, was Kunst und Religion fei, und
daß hinter Schleiern Geheimnisse liegen. Und doch
haben sie mit brennenden Augen die Madonna
mit dem Schleier angeschaut und darauf geschworen,
daß der Regenbogen eine Götterbrücke sei. Wenn
sich diese Lenzbacher Kinder draußen in der Welt
begegnen, dann winken sie frohgemut einander
zu — denn sie wissen etwas von einem Kindheits
paradies. —