Zum Andenken Karl Georg Winkelblechs.
Als am 18. Dezember 1914 der Münchener
Sozialpolitiker Lujo Brentano seinen 70. Geburts
tag feiern konnte, widmete ihm die Frankfurter
Zeitung einen Gruß zu diesem Tage aus der
Feder von Dr. R. Drill.
Zu den Männern, die die Fundamente einst
gelegt, als die deutsche Industrie und mit ihr
die deutsche Sozialwissenschaft noch im Entstehen
waren, zu den Männern, deren Lebensarbeit L.
Brentano glänzend weiterführte, zählte der ge
nannte Verfasser neben Friedrich List, Rodbertus,
L. v. Stein, Friedrich Engels, Bruno Hildeb-rand
auch Karl Marlo.
Es ist aber dieser Karl Marlo niemand anders,
als der Kasseler Professor Karl Georg Winkel
blech, der vor. nunmehr 50 Jahren zur ewigen
Ruhe einging.
Wohl die wenigsten Hessen kennen diesen Mann,
der, seiner Zeit weit voreilend, als Phantast ver
spottet, bei Seite gedrängt, nur auf eine kurze
Zeit seinen Namen in weitere Kreise trug, als er
sich der Politik «gewidmet, in dem Sturmjahre 1848,
von Schicksalschlägen niedergedrückt die Vollendung
seiner Lebensarbeit nicht schauen sollte, und dessen
Name erst heute Beachtung gefunden, da uns die
harte Notwendigkeit zur Beschäftigung mit den
Problemen zwang, denen er seine „Organi
sation der Arbeit" gewidmet.
Dazu, daß wir ihn besser kennen lernten, kommt,
daß ihm in dem Leipziger Professor Dr. W. E.
Biermann vor einigen Jahren ein Biograph ent
standen ist, der neben einer kritischen Würdigung
des Lebens jenes merkwürdigen Mannes auch zu
gleich eine packende Schilderung der politischen
Ereignisse, in die Winkelblech eingegriffen, geboten
hat.*)
Zunächst sei ein knapper Hinweis auf die Arbeit
gegeben, die Winkelblechs Namen in der Sozial
wissenschaft zu einem bleibenden gemacht hat.**)
Die „Organisation der Arbeit" ist
das Problem, das sich ihm, der bis dahin nur der
Chemie gelebt, eröffnete, wie er selbst schildert, als
er 1843 das Blaufarbenwerk zu Modum in Nor
wegen besuchte und die Lebens- und Arbeits
verhältnisse der dort Beschäftigten ihm klar vor
Augen traten.
Mit dem warmen Herzen, das in ihm schlug,
beschäftigte er sich nuy mit der Lage der arbeitenden
*) Karl Georg Winkelblech (Karl Marlo). Sein Leben
und sein Werk. Von Dr. W. Ed. Biermann. 2 Bde.
Leipzig 1909.
**) Untersuchungen über die Organisation der Arbeit,
oder System der Weltökonomie, von Karl Marlo. 4 Bde.
2. Ausl. Tübingen 1884.
Klasse, er untersuchte die geistigen Grundlagen des
Wirtschaftslebens, er verglich, und prüfte, was
davon bestimmt sei, ein Baustein für die Fort
entwicklung zu bleiben, und was in den Theorien
der einzelnen Sozialresormer wohl im Stande
sei, die Kluft zwischen den Interessen des Kapitals
und denen der Arbeit zu überbrücken. Er erkannte
nicht einseitig der Arbeit allein und ihren Trägern
das Recht auf den Arbeitsertrag zu, aber er war
sich auch bewußt, daß nicht eine augenblickliche
Wandlung, sondern eine langsam fortwirkende
Evolution den Ausgleich zu vollziehen habe.
U n t e r s ch ä tzT"hat er vielleicht das Tempo dieser
evolutionistischen Entwicklung, hat selbst wohl ge
glaubt, schon für eine nahe Zukunft den Eintritt
der Wandlung erwarten zu dürfen, und so, in
dieser Hoffnung, Pläne, Einzelpläne für die Aus
gestaltung des gesamten Staats- und Wirtschafts
lebens entworfen. Das hat ihm das Kriterium
eines Phantasten eingetragen, macht heute noch
sein Werk schwer lesbar und prägt ihm stellenweise
den Stempel des Utopischen auf, aber man muß
berücksichtigen, daß er nicht ahnen konnte, wie die
Technik und ihre Fortbildung gerade das Bild der
Industrie und damit der gesamten Gesellschaft ver
ändern würden.
Mit diesem Moment rechneten Männer, die, wie
Karl Marx oder Friedrich Engels, den englischen
Industrialismus hatten wachsen sehen, während
Winkelblech seine Studien an den deutschen Ver
hältnissen gemacht, die in den vierziger Jahren
des 19. Jahrhunderts gerade erst Knospen an
setzten, aus denen die heutige Industrie entstand. —
So tragen alle die Einzelschilderungen, die er ent
warf, einen gewissermaßen spießbürgerlichen Zug, —
wer aber sich die Mühe nimmt, mit Aufmerk
samkeit den Kern der Gedanken herauszuschälen,
steht erstaunt vor dem fast prophetischen Geiste
dieses Sozialpolitikers, der die tragenden Gedanken
des Genossenschaftswesens, der Sozialpolitik, wie
besonders auch die Sozialversicherungen voraus
gezeichnet, und seine Auffassung von der Ver
teilung des Arbeitsertrages auf reine Arbeit und
Kapitalrente wird sich in den Kerngedanken wohl
auch noch völlig durchsetzen, wie sie die Theorie
der führenden Geister schon heute beherrscht, mau
denke nur an den eingangs erwähnten Brentano,
an Männer wie Schmoller und viele andere. —
Karl Marlos Gedanken durchgearbeitet, vertieft
und den veränderten Zeitverhältnissen angepaßt
zu haben, ist in erster Linie aber das Verdienst
des Tübinger Professors Albert Schäffle,
1870 österreichischer Handelsminister im Ministe-