Full text: Hessenland (29.1915)

prächtigen, Mitte Dezember von Veilchenduft er 
füllten und einen weiten Blick ins Aisnetal ge 
stattenden Berggarten das jetzt als Genesungsheim 
für unsere Feldgrauen benutzte „Haus des Gouver 
neurs" mit dem historischen, von Gabriellc d'Estrees, 
der Herzogin von Beaufort, bewohnten Zimmer, 
der Mätresse König Heinrichs IV., dem sie hier, 
während er das nahe Laon belagerte, seinen Sohn 
Cesar, den Herzog der Vendome, gebar. Hieran 
erinnert noch eine Marmorinschrift am Kamin des 
von seinem jetzigen, wohl nach Paris entflohenen 
Besitzer in ein kleines Museum umgewandelten 
Zimmers. Nicht weit davon liegt der eigentliche 
Marktplatz und an einem dritten kleineren Platz 
das von verwundetenfranzösischewKriegsgefangenen 
belegte Hospital und ein von einem Pariser Arzt 
begründetes kleines Waisenhaus für junge Mäd 
chen, die aber gleichfalls geflüchtet sein mochten. 
Um das ganze Städtchen zieht sich eine mit Türinen 
besetzte Steinmauer von stellenweise 16 bis 20 
Meter Dicke, und ein Rundgang um diese von 
allerhand Geschling umwucherte Umwallung gibt 
einen Begriff von dieser gewaltigen mittelalter 
lichen Befestigung. Nur drei Tore führen ins 
Innere, die über den Weinbergen gelegene Porte 
de Soissons, die Porte de Chauny und die in der 
Kunstgeschichte weltberühmte Porte de Laon, die 
die zugänglichste Seite der Stadt zu schützen hatte 
und darum von zwei dickleibigen Türmen von je 
vier Stockwerken flankiert war, eine der bemerkens 
wertesten militärischen Schöpfungen aus dem An- 
sang des 13. Jahrhunderts. 
So fesselnd aber auch dieses trotz Eisenbahn welt- 
entrückte, jetzt von deutschen Soldaten belebte alt- 
französische Städtchen sein mag, uns zieht es nach 
der Ruine, die weithin das Tal beherrscht und 
schon von diesem Tal aus durch ihre ungewöhn 
lichen Maße wirkt. Neben dem Rathaus biegen wir 
in eine schmale Gasse, wechseln einige Worte mit 
dem freundlichen Bürgermeister, einem stattlichen 
weißbärtigen alten Herrn, und sind in wenigen 
Minuten innerhalb der Plaee d’armes, der Vor 
burg, die das Schloß von der Stadt trennt. Hier 
standen einst die Wohngebäude der Garnison und 
der Vasallen des Herrn von Couch, die sich iu 
Kriegszeit hierher zurückzogen, die Ställe und eine 
romanische Kapelle. Der Platz, von einer festen, 
durch zwölf Türme unterbrochenen Mauer ein 
geschlossen, stand mit der Stadt durch ein befestigtes 
Tor in Verbindung. Heute ist der weite Platz, 
der manches ergötzliche Lanzenstechen gesehen haben 
mag, mit Gras überwuchert, in dem neben fran 
zösischen Uniformstücken die Reste eines kleinen 
Biwaks herumliegen. Franzosen, Engländer und 
Deutsche sind seit dem Krieg nacheinander hier 
oben gewesen. In dem kleinen Häuschen des 
Kastellans sieht es furchtbar ans. Was an Möbeln 
noch vorhanden ist, ist zerschlagen, Spiegelscherben, 
zerbrochenes Gerät, Photographien, Kinderspiel 
zeug und Papierfetzen bedecken den Boden. Ich 
hebe aus dem Wust ein Schulheft auf und blättere 
darin. „Cahier de devoirs, appartenant à Julia 
Felix, 1914.“ Es lourde vor Kriegsausbruch ab 
geschlossen, und aus deir Aufsätzen geht hervor, 
daß die Trägerin des glückverheißenden Namens 
kurz vor dem Examen stand und die Kastellaus 
tochter ist. In schlichten Worten schildert sie die 
Schönheiten ihres lieben Vaterlandes, den idyl 
lischen Frieden des heimatlichen Bergstädtcheils, bis 
ins einzelne das kleinbürgerliche behäbige Treiben 
am Bahnhof, ihren täglichen Abendspaziergang, 
wenn sie mit dem Großvater zwischen den Wein 
bergen die große Straße herabschlendert und mit 
dem gemütlichen Briefträger wieder zurückkehrt. 
Julia Felix, wie lvirst du traurig sein, lvenn du 
das väterliche Häuschen wieder betrittst, und was 
würdest du statt deiner friedvollen Schilderung 
des ländlichen Bahnhofsbetriebes geschrieben haben, 
hättest du, wie wir gestern, die endlose Reihe von 
Planlvagen und anderen Gefährten drunten am 
Bahnhof Coucy-le-ChLteau gesehen mit den hoch 
getürmten Bündeln und Kisten und darauf iu all 
ihrem Elend die Männer und Frauen, Greise und 
Kinder, deren unmittelbar hinter der Front ge 
legene Dörfer von der eigenen französischen Ar 
tillerie beschossen waren und die jetzt, einige Tau 
send an der Zahl, mit der Bahn in eine sichere 
Gegend abgeführt wurden. 
Zur eigentlichen Burg gelangte man durch ein 
stark befestigtes Tor, eben jene von Fennel an Ort 
und Stelle so plastisch gezeichnete Porte Maître- 
Odon, in den Tagen des Glanzes ein gewaltiges, 
der Porte de Paon des Städtchens vergleichbares 
Bauwerk. Bei diesem Tor lag, wie schon gesagt 
wurde, die Behausung des mächtigen Kastellans 
von Couch, eines anderen Kastellans freilich als 
desjenigen, in dessen Töchterleins Schulheft ich 
eben noch las: „Papa lait toujours visiter le 
château“. Es war der Schloßkommandant, der 
Burgvogt, der die Veste zu verteidigen und den 
Burgmannen Recht zu sprechen Hatte. Mit der 
Zeit waren die Kastellane von Couch so mächtig 
geworden, daß die Porte Maître-Odon bis zur 
Revolutionszeit ihr erbliches Lehen blieb. 
Wir alle kennen Uhlands Ballade mit ihrem 
grausigen Motiv des gegessenen Herzens. Die 
Vorstellung eines solchen Mahles ist eine uralte. 
Wir brauchen gar nicht zurückzugehen in das Haus 
der Atriden, sondern nur zu erinnern an das er 
schütternde Märchen vom Machandelboom. Weiter
	        

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