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der eigentlichen Darstellung übergeht, über die Ver
schiedenheiten zwischen den kurhessischen und den west
fälischen Steuersystemen, dabei aber läuft ihm ein be
fremdlicher Irrtum unter. Die von Napoleon dem
Lande am 5. Januar 1807 auferlegte Kriegssteuer soll
der Kurfür st durch Zwangsanlehen durch die Stände
aufgebracht haben, hier hat offenbar Lichtner nicht
beachtet, daß seit dem 1. November 1806 bis zum
Dezember 1807 noch die hessische Regierung, aber
unter dem französischen Gouverneur, da
mals Lagrange, weiterbestand, bis sie durch die könig
lich westfälische abgelöst ward. Oder soll die aus landes
herrlichem Fonds entnommene Kriegssteuer erst 1815
durch Zwangsanlehen getilgt werden? Das paßt dann
nicht zu den folgenden Sätzen. Jedenfalls enthält diese
Stelle einen Irrtum oder ist unklar ausgedrückt.
Ohne des Näheren auf die finanziellen Forderungen
des Kurfürsten einzugehen, trat nun der Adel mit einer
völlig neuen Forderung hervor: einer „den Forderungen
der Vernunft und den Erfahrungen der Zeit entsprechen
den Landeskonstitution" Zweck dieser Übung war die
Klärung des Finanzwesens, die Feststellung des Staats
vermögens. Aber ehe noch die Antwort des Kurfürsten
eingegangen war, störte sich der Adel selbst den Glauben
an die Aufrichtigkeit seiner Vorschläge: er forderte die
Patrimonialgerichtsbarkeit zurück und begründete dies
mit dem Hinweis auf die alte Verfassung. Der Adel
suchte auch die Städte, sofern sie die eigene Gerichts
barkeit besessen, zu einem gleichen Vorgehen zu ver
anlassen, diese aber erkannten die Gefährlichkeit für den
modernen Verfassungsgedanken und lehnten ab. Auch
noch Steuerstücke aus dem Inventar der alten Ver
fassung suchte der Adel zu retten, aber bald spitzten sich
alle Fragen doch in erster Linie auf die finanzielle Seite
der Sache hin zu. Die eigentlichen Träger der neuen
Gedanken waren aber nicht seine ersten Urheber, sondern
die neugeschaffene Bauernkurie, die auch das in erster
Linie ihr Gefährliche an den Wünschen des Adels
erkannte. Wohin dieser steuerte, erkennt man auch an.
dem mitgeteilten Beschluß der Ritterstube, die Garantie
mächte des Akzessionsvertrags von 1813, Österreich und
Preußen, durch eine Deputation — die allerdings nicht
zur Ausführung kam — zu einem Einwirken im Sinne
der alten Verfassung zu bewegen.
Nun trat die landesherrliche Kommission mit ihren
Vorschlägen hervor, oder, eigentlich nur der zweite
Kommissar, Johannes Hassenpflug (der Äl
tere). Es gehört mit zu den wichtigsten Stücken des
Werkes, gerade auch hinsichtlich dieses Mannes den Nach-
tveis geführt zu haben, daß er ein Opfer seiner Ehrlich
keit und Pflichttreue geworden, indem er die Anmaßun
gen des Adels und dessen reaktionäre Wünsche zurück
gewiesen, dafür aber als der Sündenbock gelten mußte,
dem das Scheitern der damaligen Verfassungsentwürfe
zuzuschreiben sei. Der Adel ist es gewesen, der hier
gewaltsam den Bruch herbeiführte, nachdem die Ver
suche, die alten Rechte und Freiheiten wiederzugewinnen,
fehlschlugen, als gerade Johannes Hassenpflug den Ge
danken des modernen Staates diesen AltständleM,gegen-
über verfocht. Wir müssen es uns wegen des knappen
Raumes versagen, all den Feinheiten des diplomatischen
Ränkespiels der Ritterschaft nachzugehen; aber nachdem
am 2. Juli die Vertagung erfolgt war, benutzten die
Wortführer der Ritterschaft den damals in Blüte stehen
den „Rheinischen Merkur" Görres', um Hassenpflug,
der ihr Spiel durchschaut, bei der öffentlichen Meinung
anzuschwärzen, und sie haben dies Ziel auch nur zu
gut erreicht. Und als später Friedrich Ludwig
v. Berlepsch das Tun seiner Standesgenossen in
sPpen „Beiträgen" schonungslos aufdeckte,'ward er heftig
dafür angegriffen, so daß er dem namentlich dabei her
vortretenden Herrn v. Eschwege sein Mandat entzog und
auch sich von all den übrigen Deputierten, mit Aus
nahme des ihm näherstehenden D a l w i g k, lossagte.
Lichtner mildert die Schärfen seines Urteils über den
hessischen Adel dann dahin noch ab, daß er sagt, er
„war nicht besser, aber auch nicht schlechter als seine
Standesgenossen im übrigen Deutschland", ohne damit
vcm der Sache auch nur das Geringste zu opfern.
Unverständlich, um das gleich hier an der betreffenden
SMle zu sagen, bleibt hinwieder das Wort Lichtners,
daS (S. 146) von den „verkauften Landeskindern" fabelt,
wo doch gerade auch von ihm die ständische Anerkennung
dieser Verhältnisse andernorts mitgeteilt wird. Daß er
dcchir dann (S. 157) gerade M u r h a r d als Kronzeuge
nmhmals anzieht, macht die Sache nicht wahrer; von
dem hessischen Heerwesen als „dem Beispiel Preußens
fotzend" aber zu sprechen, stellt denn doch auch diese
Dinge völlig auf den Kopf. Selbst Friedlich II.
von Preußen war sich des umgekehrten Verhältnisses
bewußt, wenn er hessische Jägeroffiziere noch als Jn-
stlchkteure erbat. — Auch noch zwei andere Momente be
dürfen der Korrektur. Die Deputierten werden sich wohl
kcchm im Jahre 1816 im „alten Schloß", der Brand-
rchne von 1811, an deren Abbruch man damals schon
arbeitete, versammelt haben, und wenn Seite 150 gesagt
wird, daß durch den neuen Berfassungsentwurf auch die
Grafschaft Ziegenhain einer landständischen Verfassung
teilhaftig geworden sei, so ist diese Behauptung unver-
stckldlich, wie ein Blick auf Ledderhose, Kleine Schriften,
l.,. S. 41, wo der Adel, S. 44, wo die Städte, und S. 26,
w» Stift Haina als Landstände genannt werden, dartut.
Als im Jahre 1816 die Stände wieder zusammen
traten, ward ihnen der neue Verfassungsentwurf „ver
traglich mitgeteilt" Geplant war, diesen ohne Mitwir
kung der Stände einzuführen, da man eben von Seiten
det Regierung so am besten über den Widerstand des
Adels hinwegzukommen hoffte. Die ständische Gliederung
ward beseitigt, und von den 30 Deputierten sollten
die 3 vornehmsten Diener der christlichen Konfessionen
ohne Wahl, die übrigen 27 zu je 9 auf Adel und
Prälaten, Städte und Bauern verteilt sein. Die Einzel
heiten dürfen hier füglich übergangen werden, sehr wich
tig ist, daß der Autor davor warnt, diese Verfassung mit
der vielbeschrieenen von 1831 zu vergleichen, da sie,
gegen ihre Vorläufer, unbedingt doch einen Fortschritt
bedeute.
Auch im übrigen war diese Verfassung ein Ansatz zu
künftigem Ausbau, ohne dabei schon alles Wünschens
werte zu bringen; daß er keinen genügenden, aus
redenden Hinweis auf die künftigen Staatsvermögens-
vethältnisse enthielt, ist der Hauptmangel des Entwurfs,
auch die langen Zwischenräume zwischen den Tagungen
waren bedenklich.
Statt nun, wozu Hassenpflug wieder die Hand bot,
die Lücken ausfüllen zu helfen, suchte der Adel diesen
EKwurf ebenso wie die früheren eigenen Anregungen
zuj Falle zu bringen, und als dies zu mißlingen drohte,
forderte der radikalste Vertreter des Adels, v. Rau,
di? Stände sollten gegen den Fürsten beim Bundestag
Beschwerde einlegen, aber die Bauernvertreter kannten
diesmal wie schon bei den früheren Verhandlungen ihre
„freunde" und versagten ihre Mitwirkung. Um zu
eihem Resultate zu kommen, war der Kurfürst sogar be-
reft, auf die ihm nicht genehmen Finanzvorschläge ein
zugehen, doch erreicht wurde damit nichts. Trotzdem alle
Stände auf die Verfassung ihre Hoffnung setzten, kam
sie aus den geschilderten Ursachen nicht zu Stande; die