„Scherschant" Die Haare hingen ihnen tief in
die Stirn,^ihre Augen blitzten keck in die Welt,
sie kleideten sich mit der schäbigen Eleganz schäbiger
Warenhäuser. Es sollte oft hoch bei ihnen her
gehen, wenn der Herr Scherschani sich zu einem
Besuch herabließ,- man munkelte sogar von Wein
und Apfeltorte. Ich hatte schon längst die trübe
Ahnung, als ob die Lücke in unserm Weinvorrat
und einige fehlende Wäsche in engerem Zusammen-
hang mit dem Wohlstand der Familie Müller
stände. Aber wie der Vogel Strauß barg ich meinen
Kopf.
Ich wollte nicht wissen.
Als aber auch in der Wurstkammer ein geister
haftes Entschwinden überhand nahm, sprach ich
mit Vater. In stummem Einverständnis schonten
wir Mutters Empfinden und machten uns heimlich
auf den Weg. Wir kamen zu guter Stunde.
Es machte alles einen festlichen Eindruck, besonders
Mutters altes, schönes Tafeltuch, auf dem sich Vaters
guter Rheinwein recht stattlich ausnahm. Da er auch
bestimmt war, aus unfern alten, geschliffenen
Gläsern getrunken zu werden, war der behagliche
Eindruck noch verstärkt. Hinter einem rosigen
Schinken aus Mutters Wurstkammer saß mit
gezücktem Messer der Herr Scherschani und teilte
seine Zuneigung zwischen diesem und Maria Müller,
die liebevoll und mit halbgelöstem Chignon auf
dem alten Sofa thronte.
Ruhig gingen wir hinaus und überließen Müllers
ihrem Entsetzen und unsern^Sachen. Ich fühlte
etwas Wehes in mir. Was würde meine goldene
Mutier sagen?
Sie hörte uns mit weitgeöffneten Augen zu.
Sie wurde so blaß, daß wir erschraken. Dann
sagte sie zaghaft:
„Vielleicht, — vielleicht habe ich es ihnen doch
einmal geschenkt." -
Aber als sie unsre kühlen Augen sah, legte
sie das Gesicht in die Hände und weinte bitterlich.
<»...<£*.
Vom Kasseler Hofihealer.
Heute, wo betriebsame Elemente zweiten und dritten
Ranges die Bühne beherrschen, gibt es offenbar ein
unfehlbares Mittel für den dramatischen Dichter, Ruhm
zu erwerben und zu den aufgeführtesten Autoren gezählt
zu werden: er muß nur durch Bizarrerien und Paradoxe
als seltsames Original sich geben. Bon Bernard
Shaw, dessen „Pygmalion" das Hoftheater
brachte, ist bekannt, daß er die schwarze Fahne der
Anarchisten im Londoner Hydepark vorantrug, daß er-
der Devise ni ckieu, ni maître huldigte und daß er
vorgibt, mit seinen Dramen soziale Ziele zu verfolgen.
Er ist der meistberedete Mann Englands. Unzählige
Federn, zu denen auch seine eigene zählt, suchen den
Tiefsinn seiner Werke aufzudecken und seinen Ruhm zu
mehren. Gegen die Meinung seiner Landsleute feierte
er Wagner und Nietzsche und weil Homer sich noch eines
gewissen Ansehens erfreut, schimpft er auf ihn. Shake
speare verdunkelt seine Größe, und so bedenkt er ihn
mit Ausdrücken, die keine Kosenamen sind. Wenn man
seine wortreichen Vorreden und Einführungen liest, merkt
man bald, daß es für ihn nur einen Gott gibt, der
zugleich sein eigener Prophet ist: Bernard Shaw. Auch
wenn er nichts Günstiges von sich aussagt, wird uns
klar, wie hoch er in eigener Schätzung steht. Aus
seiner Anarchistenzeit hat er den Haß gegen die be
stehende Gesellschaftsordnung, gegen die konventionellen
Einrichtungen der Kulturmenschheit behalten. Sie sind
wert zu Grunde zu gehen, und seine bitteren Sarkasmen,
sein Hohn und sein Spott wird ihnen reichlich zu teil.
Er ist Pessimist durch und durch. Das wäre an einem
englischen Dichter schließlich nicht zu verwundern. In
der britischen Literatur hat in den letzten hundert Jahren
der Pessimismus bei allen Richtungen, der realistischen
tvie der idealistischen, Orgien gefeiert. Aber Shaw ist
Ire, und er fügt noch den grimmen Haß hinzu, der
den Angehörigen seiner Nation eigen sein soll.
Er hätte wirklich nicht nötig gehabt, in einer seiner
selbstbespiegelnden Vorreden sein Publikum darauf auf
merksam zu machen, daß diesem, nicht seinen Bühnen-
siguren, die Angriffe gelten. Das ivird im Pygmalion
so faustdick aufgetragen, daß auch der Begriffsstutzigste
es merken müßte. Es ist merkwürdig >vir fragen uns
verwundert, wie es möglich war, daß während des
Heraufdämmerns der Revolution die französische Ge
sellschaft den Beaumarchaisschen Angriffen zujubeln
konnte, und wir selbst sitzen im Theater und spenden
den Angriffen auf Gesellschaft und Sitte, auf Brauch
und Konvention, die die unsern sind, an denen wir
hängen mit allen Fasern unsers Seins, Beifall. Arthur-
Schnitzler hat die Leute des aneion rsssims gezeichnet,
die ihre eigene Verhöhnung beklatschten. Ein neuer
Schnitzler könnte näher liegenden Stoff finden.
Daß ein Drama Handlung haben müsse, ist ein
längst überwundener Standpunkt. Shaw, dem es offen
bar an der Gabe fehlt, eine dramatisch bewegte Hand
lung zu schaffen, macht dazu gar keinen Versuch und
setzt an ihre Stelle den glänzenden, sorgfältig ge
schliffenen Dialog. Das ist ganz erfreulich. Denn es
ist immer ein Labsal, von den Brettern herab einen
geistreichen Mann plaudern zu hören. Ein größeres
jedenfalls, als dem Gestammel naturalistischer und re
alistischer „Größen" zu lauschen. Zwar an Wildes
Aphoristeln reicht er nicht heran. Aber sein Hohn, sein
Sarkasmus, seine scharfen Angriffe sind in eine so voll
endete Form gekleidet, daß man mitgerissen wird. Ist
auch der hier zu Tage tretende Humor in seiner
grotesken Verzerrtheit von unserm deutschen, herzlichen,
erquickenden himmelweit verschieden, und gelingt es
uns auch deshalb nicht immer mit Lächeln den bis
weilen starken Späßen zuzuhören, — Shaw fesselt durch
seine geistreiche Art, durch die pointierte Flüssigkeit
der Rede. Nein, von Handlung kann bei Pygmalion
kaum gesprochen werden. Ein Professor der Phonetik,
Higgins, hat eine junge, ungebildete Straßenverkäuferin
aus der Gosse aufgelesen, bringt ihr infolge einer Wette
den „Dialekt" der feinen Welt bei und kann sie dann
als Herzogin in die Gesellschaft einführen. Sie ist herz
lich ungebildet und kann nur vom Wetter und von der