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zwischen Brüdern, Schwester und Schwager führte
zu einem Exmissionsbefehl gegen Philipp Wilhelm,
der nun alle Hebel in Bewegung setzte, um wieder
in den Besitz des Gutes zu gelangen. Jahrzehnte
lang hat er mit allen möglichen Schriftstücken und
Eingaben die öffentliche Meinung zu Gunsten der
Domänenkäufer angerufen, den Kurfürsten, die
Landstände, andere Mächte und den Bundesrat
bestürmt, ohne wenigstens in der eigenen Sache
einen Erfolg zu erreichen. Seine publizistische
Tätigkeit trug ihm von Seiten der Universität
Jena den philosophischen Doktortitel h. c. ein,
wozu allerdings zu bemerken ist, daß nach Wipper
manns glaubwürdiger Versicherung zahlreiche unter
seinem Namen ausgehende Schriften von Friedr.
Murhard verfaßt sind, der ebenfalls zu den Do
mänenkäufern gehörte und als Parteigänger der
westfälischen Regierung dem Kurfürsten unsympa
thisch war. Erst, mit Schreibers Tod im Jahre 1850
erlosch der letzte Widerstand gegen die kurfürstliche
Behandlung der leidigen Angelegenheit.
Der Kurfürst hätte ja zweifellos viel klüger
getan, wenn er die Domänenkäufer schonender
behandelt hätte, das lag aber nicht in seiner Natur,
und die schroffe Opposition steigerte noch seinen
Widerstand gegen ihre Ansprüche. Übrigens er
hielten mit der Zeit die meisten Käufer die Güter
in Erbleihe. Damit war der kurfürstliche Rechts
standpunkt gewahrt, während die Käufer faktisch
im Besitz der Güter blieben. Der Erbzins war
sehr mäßig und mehr eine Formsache. Nur die
Ausländer wie Graf Bocholz, Järomes Günstling
Lecamus und Boucheporn, der von diesem Im
michenhain gekauft hatte, blieben ganz ohne Ent
schädigung, und ebenso ging es den Hauptopponenten
wie Schreiber, Murhard und Malsburg, die jeden
Vergleich ablehnten, außerdem auch als Anhänger
der westfälischen Herrschaft galten. Die Käufer
von Deutschordensgütern, die dem Kurfürsten gegen
über entschieden in weit besserem Rechte waren,
wie die übrigen, ebenso die Domänmkäufer im
Fuldischen und Hanauischen, die sich auf Vertrags
bestimmungen mit den alliierten Mächten berufen
konnten, wurden weit eher befriedigt. In Alt
hessen zog sich die Angelegenheit, die mehrfach
den Bundestag beschäftigte, bis in die Regierungs
zeit des Enkels Wilhelms I. hin. Bemerkenswert
ist, daß auch die Landstände von 1831, die doch
im allgemeinen von Voreingenommenheit für kur
fürstliche Regierungsmaßregeln gewiß frei waren,
durch den Mund Sylvester Jordans erklärten, der
Rechtsanspruch der Domänenkäufer entbehre der
rechtlichen Grundlage. Mer sie schlugen im Namen
ihres Ausschusses einen Vergleich vor und bewillig
ten zu diesem Zwecke eine Summe von 16- bzw.
25 000 Talern, die freilich gegenüber der Forde
rung der Domänenkäufer (120 000 Taler) nur be
scheiden war. Auf Grundlage dieser Vorschläge
kam es dann allmählich zu einem Ausgleich mit
den meisten Petenten, und so fand schließlich der
Streit seinen Mschluß, der Jahrzehnte lang so
viel Staub aufgewirbelt hatte.
Die Darstellung dieses Streites, wie sie Kuh
ring versucht hat, war gewiß ein interessantes
und verdienstvolles Unternehmen. Daß sie nicht
überall befriedigt, ist bei einer Erstlingsarbeit
begreiflich. Speziell der Fall Schreiber, die eauso
oölödrs der ganzen Geschichte, ist m. E. auch durch
Kuh ring noch nicht hinlänglich aufgeklärt, z. B.
unerwähnt gelassen, daß die Exmission von Schrei
bers Bruder beantragt war. Die Verschleuderung
von Freienhagen war dem Kurfürsten besonders
.anstößig, weil er mit großer Liebe an diesem
lieblichen Fleckchen Erde hing, wo er als Kind
oft gespielt hatte. In den sorgenschwangern Ok-
tobettagen des Jahres 1806 galt sein letzter Aus
flug vor seiner Flucht diesem „Freudenort seiner
Jugend"! Es wäre auch nicht unwichtig zu er
fahren, wieviel Schreiber in Wirklichkeit von dem
Kaufpreis schon bezahlt hatte. Der hessische Ge
sandte am Bundestag betonte nachdrücklich, daß
Schreiber den größten Teil des Kaufgeldes noch in
Händen, also bisher „rem et pretium besessen
habe"
Ein näheres Eingehen auf die allgemeine Ge
schichte Kurhessens in der Restaurationsperiode
lag nicht im Plane der Kuhringschen Arbeit, hätte
ihr aber entschieden genützt. So wird z. B. die
Wirksamkeit der Karlsbader Beschlüsse für Kur-
hessen von dem Verfasser stark überschätzt, sinte
malen Kurfürst Wilhelm I. sich an den Beschlüssen
gar nicht beteiligte und von Denunziationen und
geheimer Polizei überhaupt nichts wissen wollte.
Bei eingehenderem Studium der allgemeinen hessi
schen Geschichte wäre dem Verfasser auch nicht
der Lapsus entgangen, der auf Seite 101 stehen
geblieben ist: „Infolge der Julirevolution ver
schwand das reaktionäre Regiment des allgewal
tigen Ministers Hassenpflug" Das Regiment dieses
„Allgewaltigen" (der Vater kann unmöglich ge
meint sein, war auch nicht Minister) beginnt aber
erst 2 Jahre nach der Julirevolution.
Nicht uninteressant ist die von Kuhring erwähnte
Tatsache, daß von den Akten über die Domänen
angelegenheit allein die der Berliner Zentral
kommission noch nicht völlig freigegeben sind. Es
ist aber kaum anzunehmen, daß durch ihre Freigabe
das Urteil über die ganze Angelegenheit wesentlich
geändert werden wird.