Heffenlanb
Hessisches Heimaisblatt
Zeitschrift für hessische Geschichte, Volks- und Heimatkunde, Literatur und Kunst
Nr. 12. 28. Jahrgang. Zweites Iuni-Heft 1914.
Kassel in Dingelsledlscher Beleuchtung.
Von Joachim Kühn.
Im Oktober 1836 erschienen in August Lewalds
„Europa" ein paar anonyme „Bilder aus Hessen-
Kassel", die in höchst unterhaltsamer Weise die
gesellschaftlichen und künstlerischen Zustände der
kurfürstlichen Residenz geißelten und ihre herr
schenden Lokalgrößen einer beißenden Kritik unter
zogen. Sie erregten in Kassel einen Sturm der
Entrüstung 1 ). Wer hatte es gewagt, die selbst
zufriedene Beschaulichkeit der Stadt zu stören, wer
hatte sich vermessen, sie vor: ganz Deutschland
an den Pranger zu stellen? Die Frage wurde
bald gelöst: als Verfasser der übermütig-eleganten
Schilderungen stellte sich ein junger Philologe
heraus, der seit April als Hilfslehrer für neuere
Sprachen am Lyceum Fridericianum angestellt und
bei den Honoratioren durch seine Vorliebe für Lese
kabinette und Konditoreien mißliebig geworden
war: Franz Dingelstedt.
Den gesellschaftlichen Boykott, der damals über
den Dichter hereinbrach, die Hinauskomplimentie-
rung aus dem „Abendverein", dem er in den
ersten Monaten seiner Kasseler Tätigkeit beige
treten war, hat der politische Nachtwächter im
x ) Dr. Friedrich Oetker, Lebenserinnerungen. Stutt
gart, 1877, Bd. I., S. 175.
Kreise seiner Freunde schnell verschmerzt. Die
„Bilder" hatten seinen Namen in weitere Kreise
getragen und das war die Hauptsache. Freilich
sind die allseitig auf ihn eindringenden Vorwürfe
nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er zog
seine Ansichten nicht formell zurück, gab aber zu,
er könne sich übereilt haben: „Die Dinger wurden
im vorigen Sommer so leichthin gemalt, als ich
hier alles noch mehr aus der Frosch- und Vogel-
Perspektive ansah", gestand er im März 1837 dem
General von Bardeleben, „ich würde jetzt, mehr
al pari stehend, Besseres schreiben. Mir war's
aber in den Bildern nicht um großen Adel der
Zeichnung, nicht einmal um punktiliöse Treue zu
tun. Mein Hauptstreben ging dahin, allen Zu
ständen hier ein gemeinschaftliches Maß aufzu
finden, alle Radien in einem Brennpunkt zu ver
einigen und aus einer Anschauung verschiedene
Gruppen zu konstruieren. Die Persönlichkeiten, die
Ihnen unnötigerweise zu scharf gezeichnet scheinen,
waren mir als Staffage nötig, oder um dem Ge
mälde Firniß zu geben und der Kasseler Klatsch
sucht einige Nahrung. Mehr hab' ich über die
Bilder nicht zu sagen, von denen wahrlich schon
zuviel gesagt worden. Ich wollte sie nur, wie das
ein Maler bei seinem Werk tun muß, auf den