Schwestern und alle anderen Mädchen aus meinem
Heimatdorf erhoben sofort ein lautes Jammergeschrei,
aber auch die übrigen Kinder drängten ohne besondere
Weisung der Türe zu. Der Lehrer, ein noch jüngerer,
unverheirateter Mann, setzte dem auch keinen Wider-
stand entgegen, sprang vielmehr seinerseits durchs
Fenster und rannte über den Kirchhof hinweg gleich
falls dem bedrohten Dorfe zu. Wir unsrerseits,
unterwegs von der scharf zufahrenden Spritze des
Schuldorss überholt, liefen uns natürlich schier außer
Atem. Einigermaßen erstaunt waren wir, als wir
beim ersten Blick aus unser Dorf kein Feuer, nicht
einmal Rauch wahrnahmen. Am Eingang zum Dorf
schon erfuhren wir den Sachverhalt: der wilde
Hannkurt hatte sich, nach
dem er offenbar vorher Feuer
gelegt, erhängt, das Feuer
war aber bereits gelöscht.
Uns Dorfjungen fiel bei
diesem kurzen Bericht eine
Zentnerlast vom Herzen.
Dagegen meinte einer unsrer
Begleiter aus einem der
Nachbardörser entrüstet:
„Was? Nun bin ich da
'runter gelaufen, und noch
nicht einmal ein ordentliches
Feuer?" Uns verdroß die
unsrem Dorf so abholde Rede
des Knoten ungemein, und
es fehlte wenig, so hätten
wir ihm eine Tracht Prügel
verabfolgt. Was uns davon
abhielt, war wohl die Begier,
Näheres über das unser Dorf
angehende schlimme Doppel
ereignis zu erkunden. Wir
erfuhren auch das Nötige,
natürlich nicht in der Folge,
wie ich es der Ordnung halber hier erzähle. Am
Morgen, schon gegen acht Uhr, war ein Müllersuhr
werk aus dem meinem Heimatdorf nächstgelegenen
Seitental der Lahn erschienen, um Mahlfrucht ein
zuholen. Der Schorgehof gehörte zu seiner Kundschaft.
Da der Hannkurt selbst in seinem schlimmen Zustand
für Dorffremde noch zugänglich zu sein pflegte, trug der
Müller, der überdies ein äußerst handfester Mann war,
kein Bedenken, das verfemte Haus zu betreten. Er
wurde auch nicht ungnädig ausgenommen und saß
sogar einige Zeit redend und trinkend mit dem tollen
Hannkurt zusammen. Dann entfernte er sich mit der
Bemerkung, er werde nach Erledigung seiner übrigen
Geschäfte im Tors noch einmal vorsprechen. Nach
etwa dreiviertel Stunden war er wieder zurück. Da
er seinen Mahlgast im Erdgeschoß nicht antraf, ging
er rufend die Treppe hinaus in den Oberstock. Die
dortigen Zimmer waren gleichfalls leer, so daß der
Müller die Tür zu dem großen Zimmer über der
Durchfahrt öffnete. Auch hier bemerkte er beim Ein
treten zunächst nichts. Als er aber schräg rückwärts
gehend an etwas stieß und sich nun hastig umwandte,
sah er den Hannkurt am Strick baumeln. Voll
Schrecken stürzte er die Treppe hinunter und ver
ständigte die in der Nähe befindlichen beiden Kinder,
sowie Knecht und Magd. Diese überzeugten sich
wohl von der Richtigkeit der Erzählung, indes den
alten Sünder abzuschneiden, fiel — unheimlich zu
sagen — nicht einmal den beiden Kindern bei. Sie
ließen ihn vielmehr hängen und gingen — alle
wohl mit dem Gefühl „gut,
daß er endlich weg ist" —
wieder hinunter und ihren ge
wöhnlichen Beschäftigungen
nach. Etwa eine Viertel
stunde draus trafen meine
Mutter und eine Nachbarin
vor ihren einander gegen-
überliegenden Gehöften zu-
sammen, beide im Begriff,
den Erntearbeitern das Früh
stück hinauszutragen. Indem
sie nun am Schorgehos vor»
übergingen, widmeten sie
diesem, noch erregt von der
unlängst erhaltenen Nach
richt, größere Aufmerksam
keit als gewöhnlich und sahen
ziemlich gleichzeitig, daß
unter allen Ziegeln des
Hauses Rauch hervorquoll.
Erschreckt fragten sie in der
Küche des Schorgehoss nach,
-und als sie feststellten, daß
hier gar kein Feuer mehr
brannte, schlossen sie sofort, daß im Dachstuhl ein Feuer
im Ausgehen begriffen sei. Unsre Nachbarin eilte in
folgedessen unverzüglich zum Bürgermeister, um diesen
zu benachrichtigen, meine Mutter nach dem Ernteseld,
um die dort Arbeitenden herbeizurufen. Zum Glück
war in dem betr. Jahr das Winterseld ganz nahe am
Dorf, so daß die durch den Feuerrus Aufgeschreckten
schnellstens zur Stelle waren. Während sich mein
ältester Bruder auf ein Pferd warf, um mit kürzestem
Verzug die Spritze des Kirch- und Schuldorfs herbei
zuschaffen, drangen die übrigen in das Haus. Sie
fanden den auf dem Speicher lagernden bedeutenden
Flachsvorrat in hellen Flammen. Zum Glück war es
bereits gebrochener Flachs, der naturgemäß lange ge
schwelt hatte. Wäre es gedörrter ungebrochener Flachs
gewesen, so würde man höchst wahrscheinlich den Brand
Henriette von der Malsburg (Iugendbildnis).
Aus Heidelbach, Escheberg.