Full text: Hessenland (27.1913)

Schwestern und alle anderen Mädchen aus meinem 
Heimatdorf erhoben sofort ein lautes Jammergeschrei, 
aber auch die übrigen Kinder drängten ohne besondere 
Weisung der Türe zu. Der Lehrer, ein noch jüngerer, 
unverheirateter Mann, setzte dem auch keinen Wider- 
stand entgegen, sprang vielmehr seinerseits durchs 
Fenster und rannte über den Kirchhof hinweg gleich 
falls dem bedrohten Dorfe zu. Wir unsrerseits, 
unterwegs von der scharf zufahrenden Spritze des 
Schuldorss überholt, liefen uns natürlich schier außer 
Atem. Einigermaßen erstaunt waren wir, als wir 
beim ersten Blick aus unser Dorf kein Feuer, nicht 
einmal Rauch wahrnahmen. Am Eingang zum Dorf 
schon erfuhren wir den Sachverhalt: der wilde 
Hannkurt hatte sich, nach 
dem er offenbar vorher Feuer 
gelegt, erhängt, das Feuer 
war aber bereits gelöscht. 
Uns Dorfjungen fiel bei 
diesem kurzen Bericht eine 
Zentnerlast vom Herzen. 
Dagegen meinte einer unsrer 
Begleiter aus einem der 
Nachbardörser entrüstet: 
„Was? Nun bin ich da 
'runter gelaufen, und noch 
nicht einmal ein ordentliches 
Feuer?" Uns verdroß die 
unsrem Dorf so abholde Rede 
des Knoten ungemein, und 
es fehlte wenig, so hätten 
wir ihm eine Tracht Prügel 
verabfolgt. Was uns davon 
abhielt, war wohl die Begier, 
Näheres über das unser Dorf 
angehende schlimme Doppel 
ereignis zu erkunden. Wir 
erfuhren auch das Nötige, 
natürlich nicht in der Folge, 
wie ich es der Ordnung halber hier erzähle. Am 
Morgen, schon gegen acht Uhr, war ein Müllersuhr 
werk aus dem meinem Heimatdorf nächstgelegenen 
Seitental der Lahn erschienen, um Mahlfrucht ein 
zuholen. Der Schorgehof gehörte zu seiner Kundschaft. 
Da der Hannkurt selbst in seinem schlimmen Zustand 
für Dorffremde noch zugänglich zu sein pflegte, trug der 
Müller, der überdies ein äußerst handfester Mann war, 
kein Bedenken, das verfemte Haus zu betreten. Er 
wurde auch nicht ungnädig ausgenommen und saß 
sogar einige Zeit redend und trinkend mit dem tollen 
Hannkurt zusammen. Dann entfernte er sich mit der 
Bemerkung, er werde nach Erledigung seiner übrigen 
Geschäfte im Tors noch einmal vorsprechen. Nach 
etwa dreiviertel Stunden war er wieder zurück. Da 
er seinen Mahlgast im Erdgeschoß nicht antraf, ging 
er rufend die Treppe hinaus in den Oberstock. Die 
dortigen Zimmer waren gleichfalls leer, so daß der 
Müller die Tür zu dem großen Zimmer über der 
Durchfahrt öffnete. Auch hier bemerkte er beim Ein 
treten zunächst nichts. Als er aber schräg rückwärts 
gehend an etwas stieß und sich nun hastig umwandte, 
sah er den Hannkurt am Strick baumeln. Voll 
Schrecken stürzte er die Treppe hinunter und ver 
ständigte die in der Nähe befindlichen beiden Kinder, 
sowie Knecht und Magd. Diese überzeugten sich 
wohl von der Richtigkeit der Erzählung, indes den 
alten Sünder abzuschneiden, fiel — unheimlich zu 
sagen — nicht einmal den beiden Kindern bei. Sie 
ließen ihn vielmehr hängen und gingen — alle 
wohl mit dem Gefühl „gut, 
daß er endlich weg ist" — 
wieder hinunter und ihren ge 
wöhnlichen Beschäftigungen 
nach. Etwa eine Viertel 
stunde draus trafen meine 
Mutter und eine Nachbarin 
vor ihren einander gegen- 
überliegenden Gehöften zu- 
sammen, beide im Begriff, 
den Erntearbeitern das Früh 
stück hinauszutragen. Indem 
sie nun am Schorgehos vor» 
übergingen, widmeten sie 
diesem, noch erregt von der 
unlängst erhaltenen Nach 
richt, größere Aufmerksam 
keit als gewöhnlich und sahen 
ziemlich gleichzeitig, daß 
unter allen Ziegeln des 
Hauses Rauch hervorquoll. 
Erschreckt fragten sie in der 
Küche des Schorgehoss nach, 
-und als sie feststellten, daß 
hier gar kein Feuer mehr 
brannte, schlossen sie sofort, daß im Dachstuhl ein Feuer 
im Ausgehen begriffen sei. Unsre Nachbarin eilte in 
folgedessen unverzüglich zum Bürgermeister, um diesen 
zu benachrichtigen, meine Mutter nach dem Ernteseld, 
um die dort Arbeitenden herbeizurufen. Zum Glück 
war in dem betr. Jahr das Winterseld ganz nahe am 
Dorf, so daß die durch den Feuerrus Aufgeschreckten 
schnellstens zur Stelle waren. Während sich mein 
ältester Bruder auf ein Pferd warf, um mit kürzestem 
Verzug die Spritze des Kirch- und Schuldorfs herbei 
zuschaffen, drangen die übrigen in das Haus. Sie 
fanden den auf dem Speicher lagernden bedeutenden 
Flachsvorrat in hellen Flammen. Zum Glück war es 
bereits gebrochener Flachs, der naturgemäß lange ge 
schwelt hatte. Wäre es gedörrter ungebrochener Flachs 
gewesen, so würde man höchst wahrscheinlich den Brand 
Henriette von der Malsburg (Iugendbildnis). 
Aus Heidelbach, Escheberg.
	        

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