9«*^ 72 S«L>
nachdem er durch diese Erörterung der hochinter
essanten rätselhaften Zeichen ausmerksam gemacht
ist, bei der nächsten Gelegenheit achten kann. Sind
das vielleicht Runen?
Man unterscheidet an den alten niedersächsischen
Steinbauten vier Arten solcher Einschürfungen.
Einmal die obigen scharfgeschnittenen Längsschliffe,
die ohne größere seitliche Ausdehnung oft von er
heblicher Länge sind, bis zu mehr als einem halben
Meter. Dann direkte kurze Vertiefungen in Form
eines Schiffchens, ferner Aushöhlungen in Form
einer Halbkugel; beide mit scharfen Außenrändern
und glatten Innenflächen. Viertens mehr oder
minder ovale oder halbkugelförmige Ausschleifungen,
Hohlschliffe, wie sie entstehen, wenn man auf einem
Stein längere Zeit Messer und ähnliche Gegenstände
schärft. Die Zeichen der ersten Art finden sich an der
Nikolaikirche, Hohlschliffe der letzten Art am äußeren
Tor der Schaum bürg auf dem Nesselberge.
Zweck und Bedeutung der letzteren dürste wohl
ganz klar sein. Messer, Speere, Schwerter wurden
an diesen Stellen gewetzt. Beim Auszug zu Fehden
oder in den Krieg wetzten die Rittersknechte, die
Söldner u. a. ihre Schwerter an den Kirch- und
Burgtüren, an den Kirchtüren mit Vorliebe als
an „heiligen Türen", im Glauben, daß dies be
sonders gut und heilsam wirke, sie weihten gleich
sam ihre Waffen, wenn sie sie an der Kirchenmauer
schliffen. Die Bauern, die mit Wolfspießen zur
Kirche gingen — vor 250 Jahren wimmelte noch
das Land von Wölfen — lehnten ihre Spieße
während des Gottesdienstes draußen an der Kirche
an und schärften sie an den Kirchportalen.
Die Aushöhlungen in Form kleiner Schiffchen rc.,
wie sie die ganze Südwand der katholischen Kirche
in Goslar überdecken, erklären sich anders. Nach
einer Mitteilung des Anthropologischen Korre
spondenzblattes hat man im Mittelalter Steinstaub
aus dem heiligen Gemäuer herausgekratzt und den
so gewonnenen Rillenstaub zu geheimem Zauber
oder als Heilmittel bei Kranken verwendet.
Für die Rillen in d e r Form, wie sie sich deut
lich an unserer Nikolaikirche und der Oldendorfer
Kirche befinden, hat man noch keinerlei Erklärung.
Es sind die scharfgeschnittenen Längsschliffe, die
mit einem scharfen Gegenstand (Schwert?) hinein
gehauen oder hineingeschnitten erscheinen. Aus
fallend, daß sie vorwiegend auf der Südseite der
Kirchen auftreten!
Das typischste Beispiel der ovalen Ausschleifungen
weist übrigens die Dorfkirche in Lachem gegenüber
Fischbeck auf, deren westliche Tür in der Zeitschrift
„Niedersachsen" abgebildet ist, sie zeigt auch Längs
schliffe.
■»>•«»
Urteil eines Hessen über China.
Es ist schon öfters das Wort gebraucht worden. Hassia
non scribit, Hessen schreibt nicht. Reich ist allerdings
unser Hessenland nicht an Geisteserzeugnissen. Woher kommt
es wohl? Wir Hessen sind schwerfällige, aber auch gründ
liche Leute. Was wir anfassen, fassen wir dann auch um
so tiefer an. Das gilt von den Männern unseres Hessen
landes, die mit ganzer Hingebung sich in ein Arbeitsgebiet
versenkt haben und deren Schriften dann nicht müßige Ge
dankenerzeugnisse. sondern das Resultat treuer, tiefer Arbeit
sind. Das macht zum Beispiel das Buch unseres hessischen
Landsmannes Wilhelm Speck „Zwei Seelen" so wertvoll, daß
man ihm anmerkt: Aus dem schweren Beruf der Seelsorge
an Gefangenen ist dies alles geboren und durch den schaffenden
Geist des Dichters in eine höhere Einheit gebracht. Aber
noch ein anderes hat immer wieder Männer unseres Stam
mes zur Geistesarbeit aufgerufen, noch aus anderer Quelle
haben sie schöpfen dürfen. Das ist das Volkstum unseres
Stammes. Denn kein deutscher Stamm ist an Volkstum
so reich als unser Hessenstamm. 'Und zu den Männern
blicken wir mit Achtung und Liebe auf, die sich in unser
eigenes Volkstum mit inniger Hingebung versenkt haben.
Das waren unsere Größten, die hier am tiefsten geschöpft
haben. Ihre Namen brauche ich nicht zu nennen. Sie
find unseres Hessenlandes Stolz.
Aber man darf nun von hier aus weiter gehen und darf
sagen: Wer das Volkstum des eigenen Landes mit Liebe
betrachtet und zur Darstellung bringt, der ist auch imstande,
fremdes Volkstum in seiner ihm eigentümlichen Eigenart
zu würdigen. Denn er allein bringt den richtigen Maß
stab mit, um auch den Wert fremden Volkstums richtig
einzuschätzen. Von diesen beiden Gesichtspunkten aus möchte
ich im folgenden das Buch eines hessischen Landsmannes
besprechen: Wilhelm Schülers Abriß der neueren
Geschichte Chinas. (BerlinKarlCurtius 1912. 6M.)
Schüler ist ein Enkel des in Hessen einst so bekannten
Allendorfer Superintendenten Schüler, dessen Gestalt gerade
in diesem Erinnerungsjahr 1813 vielen Hessen wieder leb
haft vor der Seele steht. Nun. der Enkel ist noch weiter
vom Hessenland weggeführt als einst sein Großvater, der
mit den freiwilligen Jägern nach Frankreich hineingezogen
war. Zuerst im Dienst der Mission, sodann als Pfarrer
von Shanghai hat er seit dem Jahre 1900 das Volkstum
Chinas an den Quellen studieren gelernt. Die Frucht seiner
Studien ist diese von der deutschen Kolonialgesellschaft, Ab
teilung Tsingtau, gekrönte Preisschrift über die neuere
Geschichte Chinas, in der noch die unser Kolonialgebiet
umgebende Provinz Shantung besondere Berücksichtigung
gefunden hat. So darf der Verfasser mit Recht in der
Einleitung sagen, daß ihn bei seinem langjährigen Aufent
halt in Tsingtau und Nordchina ein fast heimatliches In
teresse angezogen habe.
Das Buch ist mit einer ganz besonders anzuerkennenden
Sachlichkeit geschrieben, die sich in größter Gewiffenhaftigkeit
bemüht, der Eigenart dieses uns noch so fremden Volkes
näher zu kommen, einer Sachlichkeit, die aber nicht dürre
Zahlen und Tatsachen und Geschichte der Dynastien bietet,
sondern die vor allem die kulturgeschichtliche Ent
wicklung Chinas hervortreten läßt.
Man könnte auch hier sagen: Wie klein ist doch die
Welt! Wir stellen uns die chinesische Kulturentwicklung