r«ss-L- 141
und ohne Schönfärberei darstellte. Alles Existierende
sollte (wenigstens der Theorie nach) fortan Gegen-
stand.der Kunst sein können. Ihr Stoffkreis sollte
so weit reichen, wie die sichtbare Welt. Es ist
bekannt, daß die Folge dieser weitherzigen Doktrin
eine merkwürdige Einseitigkeit war. Denn in der
Praxis trat eine Bevorzugung des von der alten
Ästhetik als „häßlich" Bezeichneten ein. Es war
die Zeit, in der das Paradoxon geprägt wurde:
„Das Häßliche ist das Schöne." Das Phantasie
bild schien völlig verdrängt. In Deutschland hat
der Moderne Naturalismus, dem Menzel und Leibl
vorgearbeitet hatten, die verflachte Historien-, Geure-
und Schönheitsmalerei ebenfalls rasch überwunden.
Pleinair- und Armeleutemalerei sind vereinigt auch
bei uns eine Bewegung geworden, die den Sieg auf der
ganzen Linie errang. Doch machte sich neben diesem
Naturalismus (der sich, nebenbei bemerkt, vom
literarischen Naturalismus nur durch die Ausdrucks
mittel unterscheidet) eine andere, eine stilisierende
Richtung bemerkbar, die, der Wirklichkeit abgewandt,
die freie Phantasie walten ließ und sich der Sage
und Mythe, der Mystik und Symbolik zuneigte.
Es war Böcklin, der hier dieselbe Johannes-Rolle
spielte wie Menzel beim Naturalismus. Und wie
stellt sich die Situation heute dar? Die Nur-
Naturalisten sind bereits ins Hintertreffen geraten.
Noch bilden sie die große Masse, der wir auf den
Ausstellungen begegnen, aber sie haben nichts Neues
mehr zu sagen sie wiederholen nur. Die Re
volutionäre von gestern sind die Akademiker von
heute. Die schöpferischen Kräfte (stets eine kleine
Minderheit) ringen bereits um andere Probleme.
Schon hat sich in der Malerei bei wenigen führen
den Begabungen (Klinger z. B.) eine Durchdringung
des naturalistischen und idealistischen Prinzips voll
zogen, eine großartige Synthese, wie wir sie in
der genau den gleichen Wandlungen unterworfenen
modernen Dichtung noch nicht zu verzeichnen haben.
Anlaß zu dieser kurzen Orientierung über die
moderne Kunstentwicklung gab die gegenwärtige
Aufstellung des Kasseler Kunstvereins. Sie zeigt
uns einen Maler, dem die strenge Schule des
Naturalismus Voraussetzung und Grundlage zu
neuem Tun gab. „Morgensonne" heißt das letzte
Bild Walter Schliephackes, eines jungen, hier
lebenden Meisters, der sich selten auf Ausstellungen
sehen ließ. „Morgensonne"! — Man könnte Lust
verspüren, im Hinblick auf die Bedeutung des
Bildes eine versteckte Symbolik ous dem Titel
herauszulesen. Wir sehen eine Flußlandschast mit
Bäumen, ganz eingetaucht in eine graublaue Luft,
die das goldene Frühlicht zu durchblitzen und zu
durchrieseln beginnt. In dieser Landschaft voll
geheimnisvollen Lichtzaubers stehen Menschen in
feierlicher Ruhe oder gemessener Bewegung. Ihre
nackten Körper sind umflossen von dieser eigen-
artig durchsonnten Atmosphäre, die sie farbig restlos
zum Ganzen stimmt. Wahr und wirklich und
dennoch auch wieder traumhaft-unwirklich erscheint
die Welt der „Morgensonne". Wer die Formel
für diese Kunst sucht, wird sie mit dem Schlag
wort „Neuromautik" nicht ausreichend charakte
risieren. Wir haben hier die völlige Verschmelzung
neu-romantischeu Gefühlslebens und Schönheits
empfindens mit naturalistisch erforschter und
naturalistisch wiedergegebener Wahrheit. Beide
Richtungen steigerten sich wechselseitig, ein solches
Ergebnis zu zeitigen.
Schon in einem frühen Stadium seiner Ent-
Wicklung hat Walter Schliephacke versucht, seine
Persönlichkeit im Phautasiebilde auszuprägen. Er
war dabei nicht selbständig von Anfang an. Man
ist immer jemandes Sohn — zunächst wenigstens,
ehe man ein „ich selbst" wird. Es liegt in der
Veranlagung und im Temperament Schliephackes
begründet, daß er sich frühzeitig zur idealistischen
Richtung, zur Romantik und farbigen Stilisierung
Böcklins hingezogen fühlte, daß ihn auch Hans
v. Maries mit seiner Welt, einer unwirklichen,
zeitlosen Schönheit, mächtig angelockt hat. Das
bezeugen Werke wie „Ritter und Mädchen", eine
Gruppe von Akten und Halbakten, „Frauen und
Kinder" in einer Landschaft. Moderner ist schon
ein sehr feines religiöses Bildchen „Die Flucht
nach Ägypten", doch deutet auch hier ein romantisch
symbolisierender Kolorismus noch überwiegend nach
rückwärts. Wäre Schliephacke auf diesem Wege
geblieben, so hätte man nur einen begabten Epigonen
mehr zu verzeichnen. Ein unablässiges Natur
studium mit den Mitteln moderner malerischer
Technik hat ihn vor diesem Schicksal bewahrt.
Zwar hat der Künstler nie aufgehört, das Traum-
land seiner Phantasie zu gestalten, doch konnte
er durch Jahre in der Hauptsache nichts Besseres
tun, als sich zum konsequenten, rücksichtslos-ehr
lichen Naturalisten und Eindrucksmalerzu entwickeln.
Er hat Studien verschiedenster Art, Köpfe, Akte,
Landschaften mit und ohne Figuren, Interieurs und
Stilleben gemalt, die inbezug auf lebendige Un-
Mittelbarkeit der Wiedergabe des optischen Eindrucks
belichteter und beschatteter Objekte zu den besten
Leistungen zu rechnen sind, die moderne Wirklichkeits-
Malerei aufzuweisen hat. In selbständiger Weise hat
der Künstler sich vor der Natur jene Valeurmalerei
zu eigen gemacht, die dein Auge das Luftleben
zwischen den Dingen offenbart, ihm jene Ver
änderungen der Farbentöne zur Erkenntnis bringt,
die sich ergeben aus der Stellung der Gegenstände
im Raume, ihrer verschiedenen Entfernung unter-