Hessisches Heimatsblatt
Zeitschrift für hessische Geschichte, Volks- und Heimatkunde, Literatur und Kunst
Nr. 24. 26. Jahrgang. Zweites Dezember-Heft 1912.
Dr. Wilhelm Solckmar.
Ein Gedenkblatt zu seinem 100jährigen Geburtstage von Heinrich Bertelmann.
Es war im Herbst 1885. Das Lehrerseminar
zu Homberg feierte in der alten, durch die Tage der
Reformation geweihten Stadtkirche fein 50 jähriges
Jubiläum. Nach Erledigung der üblichen Reden
und Begrüßungen erhob sich aus der festlichen
Menge eine ehrwürdige Gestalt. Das so freund
lich blickende Gesicht umrahmte schneeweißes Haar.
Die breite Brust deckten zahlreiche Orden, Rüstigen
Schrittes stieg der Greis zur Orgel hinauf, jenem
herrlichen Werk, daß er so manchmal in weihe
vollen Konzerten gemeistert.
Ein Danklied hob an. In feierlichen Klängen
schwoll es durch den heiligen Raum. Doch auch
Trauer und Klage mischten sich ein um allzu früh
verblichene Freunde und Mitarbeiter, die diesen
Jubeltag nicht mehr erlebten. Und dumpfes Grollen
klang nach wie Gewitter überm Walde. Aber nur
einen Augenblick. Die Erinnerung an Leidens
nächte und bittere Kämpfe behielt nicht die Ober
hand. Das Lied kehrte zurück, die Freude gewann
den Sieg. Heller und heller hob sich die beflügelte
Weise aus dem Chaos von Tönen. Gleich einem
gewaltigen Strome erbrauste der hehre Lobgesang
durch das Gotteshaus, jedes fühlende Herz mit
sich emporreißend zu dem Schöpfer und getreuen
Hüter der Menschenseele.
DaS war Professor Bolckmar, der einzige, der
die Übersiedelung des Seminars von Kassel nach
Homberg miterlebt. Das Lied war sein Schwanen
gesang, sein Tedeum, daniit er seine reichgesegnete
Wirksamkeit zum Abschluß brachte.
Ein halbes Jahrhundert hat dieser seltene Mann
sich mit größter Treue und unendlichem Fleiße
um die Hebung des Kirchengesanges und Orgel
spiels in Hessen bemüht und eine stattliche Schar
tüchtigerOrganisten und Gesanglehrer herangebildet.
Seine Harmonielehre (Breitkopf & Härtel,
Leipzig) ist in ihrem logischen, festgefügten Aufbau
eine vorzügliche Schule musikalischen Denkens. Und
wenn wir heute hin und her in Hessen tüchtige
Musiker aus Volksschullehrerkreisen in leitender
Stellung sehen, so werden sich viele unter ihnen
dankbar und stolz als Schüler Volckmars bekennen.
Seine Orgelschule bleibt wohl sein bedeutendstes
Werk auf dem Gebiete der Kirchenmusik und redet
von dem Bienensteiße des Verfassers. Auch das
Choralbuch ist eine Meisterarbeit. Um so un
begreiflicher erscheint es den Hessen, wie Herzog,
ein Münchener, Volckmar aus unserer heimatlichen
Kirche verdrängen konnte. Volckmars reichere
Harmonisierung erscheint meinem Gefühle nach
stimmungsvoller und volkstümlicher als die viel-