Negligee, noch halb schlafend, an das geklaffte Fenster
und vor Kälte zitternd horchen alle auf die lang
gezogenen, tiefen klagenden Ruse des Wächterhorns,
auf die verwehten Klänge des Neujahrsliedes, die
der Wind zu ihnen herüberträgt.
Endlich biegen die nächtlichen Sänger um die
nächste Straßenecke. Eine Gruppe von Männern,
etwa zwei bis drei Dutzend, von ein paar trüben
Laternen gespensterhast beleuchtet, nehmen an dem
nächsten Kreuzweg Ausstellung. Aus der Jugend
ist mir noch der ganze spukhafte Eindruck dieser
nächtlichen Szene in lebhafter Erinnerung. Von
den Laternen werden nur die Beine der Nacht
wandler beleuchtet, die dunklen Oberkörper wachsen
ins Ungemessene und Riesenhafte. — Nun ein drei
maliges, weithin schallendes tiefes „Tuhut" wie ein
Ruf aus dunkeln unterirdischen Reichen, ein Blättern
und Rascheln, ein leises Tuscheln, der Vorsänger
beginnt, und nun Hallen ernst und getragen die
Klänge eines Kirchenlieds durch das nächtliche
Dunkel: Mein Leben ist ein Pilgrimstand — der
Himmel ist mein Vaterland — ich finde keine Ruh
auf Erden. Nach jeder einzelnen Zeile wird ab
gesetzt und der Vorsänger leitet — wie die alten
Kantoren beim Kirchengesang — mit ein paar Ver
bindungstönen zum Ansang der zweiten Zeile
über. Dieses langsame, feierlich getragene Kirchen
lied die wehmütige Melodie, die langgezogenen
tremolierenden Töne zwischen zwei Zeilen, die
zitternde, spukhafte Beleuchtung, der Ernst der
Stunde üben aus den nächtlichen Zuhörer stets eine
nachhaltige Wirkung aus.
In den meisten Häusern sind während des Singens
die Fenster hell geworden, und Eltern und Kinder
lauschen dem nun anhebenden Wächterspruche. Ich
schrieb mir in einer der letzten Sylvesternächte den
Wortlaut des Glückwunsches aus und teile ihn hier den
Lesern des „Hessenland" mit. Nach dem Ausklingen
des Gesanges beginnt der Wächter, halb singend,
halb sprechend:
Ich wünsche Euch allen viel Glück zum neuen Jahr'
Viel Segen auch in diesem Jahr!
Nach einer kurzen Pause fährt er fort
Das alte Jahr ist nun dahin.
Da ich jetzt noch Wächter bin
Und so manche liebe Nacht
Für Veckerhagen hab' gewacht
So werft jetzo einen Blick
Aus das vergangene Jahr zurück.
Alles, was wir Gutes haben,
Hat Gottes Gnad' an uns getan.
Drum ruft ich laut nach Wächterpflicht:
O Mensch, vergiß den Dank nur nicht'
Hört's ihr Herrn, nah und fern:
Lobet mit mir Gott den Herrn! (Pause.)
Im neuen Jahr aufts neue
Den Landmann, Herr, erfreue!
O seg'ne Garten, Wies' und Feld'
Gib Frieden, Herr, der ganzen Welt'
Segne auch die Obrigkeit,
Die Lehrer, deine Geistlichkeit,
Den Bürgermeister und Gemeinderat,
Daß sie erteilen Schutz und Rat!
Den Landesherrn erfreue du
In diesem Jahr mit froher Ruh'
Der Landesmutter schenk Wonn' und Heil,
Dann wird uns dieses Jahr zum Heil!
Langsam setzt sich der Zug wieder in Bewegung,
und von dem nächsten Wächterstande schallt uns
bereits durch die Entfernung gedämpft ein anderes
Lied entgegen. Ein Fenster nach dem andern klappt
zu und die Lichter verlöschen. Fromme Gemüter
aber knicken vor dem Einschlafen ins Gesangbuch
ein Eselsohr, damit das Lied kennzeichnend, das
ihnen im neuen Jahre eine Offenbarung von oben
sein soll, ein Wegweiser in den Jrrsalen des Lebens,
ein Trost in den schweren Stunden des neuen
Jahres. —
Ich bin mir der rhythmischen und poetischen
Mängel dieses alten Wächterspruches, den unsere
Großeltern schon in ähnlicher Form gehört haben,
wohl bewußt, trotzdem ist die Wirkung aus jeden,
der noch ein wenig Sinn für alte Bräuche, für
Volksempfinden und Volkspoesie hat, eine un
verkennbare. Es gehören eben die ernsten Schauer
einer Neujahrsnacht dazu, um den Eindruck dieser
nächtlichen Szene voll auskosten zu können. Am
hellen Tage, aus nüchternes Papier gedruckt, ver
fliegt der Zauber.
Sind endlich auf den Wächterständen die Neu
jahrsgesänge verklungen, so werden noch einzelnen
angesehenen Bürgern Neujahrswünsche privatim,
gegen klingende Münze natürlich, dargebracht. End
lich im Morgengrauen zieht der Nachtwächter mit
der treuen, hilfsbereiten Schar seiner wohldurch
wärmten Wohnung zu, um sie für die nächtlichen
Strapazen durch Kaffee und Kuchen und später durch
schärfere Sachen schadlos zu halten. Der Rest ist
dann manchmal nicht Schweigen.