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Clariffe Knke.
Novelle von Henriette Keller-Jordan.
(Fortsetzung.)
Ich hatte die nahenden Schritte nicht einmal ver-
nommen, so versunken war ich in meinen Gedanken,
aber als ich dann beim Knarren des Tores, das sich
mir wie in einem Zaubermärchen öffnete, vor Clariffe
selbst stand, vermeinte ich zu träumen, so feenhaft
erschien mir alles, was mich umgab.
Was sie sagte, dessen erinnere ich mich nicht mehr,
ich weiß nur noch, wie sie neben mir durch die ge
pflegten Wege des Gartens schritt und mir schön und
jungfräulich erschien, wie niemals zuvor. Sie trug
ein weißes Flanellkleid mit schwarzen Samtausschlägen
und Gürtel, einfach und schmucklos, und die goldenen
Löckchen ihrer Haare flatterten ungebunden um den
schweren Zopf im Nacken, den eine goldene Nadel
trug. Sie führte mich, als habe sie mich längst
erwartet, die Stufen zu dem Schlößchen hinaus, über
den mit bunten Fliesen belegten Estrich, in einen
kleinen Gartensalon, dessen Glaswand den Ausblick
aus den See gab, der jetzt, einem Purpurspiegel gleich,
in der Abendsonne leuchtete. Ein lauschiges Plätzchen
nahm uns auf — ich neigte mich über ihre Hand
und küßte sie.
Bevor sie sich setzte, schlug sie die silberne Glocke
an, die auf dem Tische stand.
„Bezahlen Sie den Kutscher, Kuni!" sagte sie zu
dem eintretenden Mädchen, „der den Herrn Doktor
Lander gebracht hat, und sorgen Sie, daß sein Gepäck
in ein gutes Zimmer getragen wird — in meinem
Flügel."
„Können Sie mich wirklich eine Nacht beherbergen,
Frau Baronin?" fragte ich. nachdem das Mädchen
gegangen war, „ich habe beinahe das Gefühl, als
sei ich in einem verwunschenen Schlosse."
„Freilich, in einem verwunschenen Schlosse," gab
sie lachend zurück, „in dem sich die Gastfreundschaft
von selbst verstünde, auch wenn Sie nicht mein
Freund wären."
Und dann setzte sie sich und sah mir mit ihren
großen ernsten Augen fragend ins Gesicht.
Ich verstand sie. „Ich komme von Paris, von
Bruno Kelten", sagte ich leise, als ob der Klang des
Namens sie schmerzen könne. „Ich habe ihn nicht
ganz so gesunden, wie ich es wünschte, Frau Baronin."
„Aber er ist nicht krank — nicht ernstlich krank?"
flog es über ihre Lippen.
„Ich weiß es nicht, mir schien es ein Leiden tieferer
Art, eine psychische Verstimmung —"
„Das hängt sicherlich nur mit der verkehrten
Richtung zusammen, die er in der Kunst eingeschlagen
hat," unterbrach sie mich aufatmend, „sein Talent
wird siegen und die Verstimmung vorübergehen."
„Vielleicht — wenn —"
„Wenn? — was wollten Sie sagen, Doktor?"
„Was ich sagen wollte? Nun, man hat ihn kritisch
angegriffen und diese Artikel —"
„Haben ihm genützt?" fiel mir die Baronin in
die Rede, „sagen Sie,ja', Doktor, haben sie ihm
wirklich genützt?"
Die junge Frau hatte hastig gesprochen, beinahe
nervös und in ihren Augen leuchtete es heiß und
angstvoll auf.
»Ich hoffe, sie werden ihm immer mehr nützen,
Baronin," sagte ich, ihr die Hand entgegenstreckend,
„immer mehr, wenn Sie mit Ihrem großen Herzen
weiterhelfen, wie Sie es bisher getan haben. Wie
konnte ich so blind sein, daß mir nicht gleich die
Überzeugung gekommen, daß Sie es gewesen, die
mit so energischer Feder in das Schicksal des Freundes
gegriffen. Ich danke Ihnen dafür."
„Also haben sie ihm wirklich genützt, diese Angriffe
— oh Gott! Und was soll ich nun weiter tun,
lieber Doktor, sagen Sie es mir, sein Talent muß,
vor allen Dingen, der Welt erhalten bleiben."
„Was Sie weiter tun sollen, Baronin? Ich weiß
es nicht", sagte ich langsam, während ihre Augen
fragend aus mir ruhten; ich hatte nicht den Mut,
ihr zu sagen, daß er möglicherweise im Begriffe sei,
zu Grunde zu gehen.
Erst als ich ihr Gesicht weiß werden sah in töd
licher Angst, erzählte ich ihr nach und nach alles,
was ich wußte. Alles von der Zeit an, da ich ohne
jede Nachricht von ihm blieb, bis zu meiner Reise
nach Paris, unserem Wiedersehen und seinem Ver
schwinden.
Clariffe hatte mir regungslos, die Hände im Schoße
gefaltet, zugehört und auch, als ich geendet hatte,
sagte sie kein Wort. Sie saß lange in sich selbst
versunken, aber in ihr arbeiteten die Gedanken, und
zwischen ihren Brauen lag jener energische Zug, der
ihr Gesicht außergewöhnlich und bedeutend machte.
„Sie müffen ihm die Hand zur Versöhnung bieten,
Baronin," sagte ich endlich leise, mich selbst be
zwingend. „nur an Ihrer Seite —"
„Um Gotteswillen nein, das kann nicht Ihr Ernst
sein, Doktor," unterbrach sie mich leidenschaftlich,
„oder Sie haben mich selbst und Bruno niemals
gekannt. Wie wäre es denkbar für ihn, an der Seite
eines Weibes zu leben, dem er das, was er Großes
leistet, auch nur teilweise verdankte? Nein, nein,
Bruno muß aus sich selbst heraus reifen, Sie kennen
ihn nicht, ich wiederhole es, Doktor, denn er ist stolz
und selbstbewußt, und das Weib, das er einst sein