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Hochsommer. Unter Blumen und Blüten bewegte
sich der Zug der Trauernden zum Ort der Feuer
bestattung. Es war eine Stimmung in der Natur
wie zu der Zeit, da die Frauen von Hellas um
Adonis klagten, den göttlichen Jüngling, den plötz
licher Tod an einem Sommertag gefällt hatte.
Mit Albrecht Dieterich sind große Pläne und kühn
gedachte Entwürfe zu Grabe gegangen. Man darf
sich nicht vorstellen wollen, was er der Wissenschaft
geworden wäre, wenn ihm das Schicksal noch ein
oder zwei Jahrzehnte gegönnt hätte, ihm, der mit
jeder Arbeit die Erkenntnis, oft an einem entscheidenden
Punkte, förderte und selbst da, wo er irrte, Anregung
gab. Sein Nachlaß enthielt große Mengen von
Notizen, Zeugen seiner Teilnahme an allen Be
wegungen religiösen Lebens im Altertum und an
den Analogien anderer Völker, die er in langen Jahren
zusammengetragen hatte. Leider ist das meiste dieser
Kollektaneen für niemand anders verwendbar, meist
ein Zitat, dazu ein kurzes, nur ihm vertrautes Stich
wort — das ist alles. Für einige Materien sind
die Notizen ausführlicher und zu Gruppen geordnet
(z. B. für Abendmahl, Angeloi, Himmelfahrt, Pax,
heilige Quellen, Traum) diese Sammlung hat Frau
Marie Dieterich sich entschlossen dem in Bonn ge
gründeten Usenerarchiv zu überweisen und damit
allen zugänglich zu machen.
Nicht beendet ist von größeren Arbeiten eine Aus
gabe der Legende des heiligen Theophilos, die Dieterich
durch die Beziehung des Zaubers zur Legende lockte,
und eine Edition der orphischen Hymnen, die er nie
aus den Augen verloren hatte. Sie sollte zusammen
mit anderen Resten orphischer und mystischer Poesie
im zweiten Band der Sammlung ?ovtarum Grae-
corum fragmenta erscheinen, die u. von Wilamowitz
redigiert. Beide Arbeiten sollen von Freunden
Dieterichs zu Ende geführt werden. Ebenso wird
die Redaktion der „Religionsgeschichtlichen Versuche
und Vorarbeiten" und des „Archivs für Religions
wissenschaft" im Sinne Dieterichs von befreundeter
Hand weiter geleitet.
Das geplante Buch über „Volksreligion" ist nicht
mehr geschrieben worden. Es sind nur Vorarbeiten
für die Ausarbeitung vorhanden. Von dem „Unter
gang der antiken Religion", wie der Titel lauten sollte,
gibt es Nachschriften seiner Schüler, die wenigstens
den Ausbau der Gedanken erkennen lassen. Es ist
daran gedacht worden, eine Sammlung der kleinen
Schriften Dieterichs herauszugeben, vielleicht kann
darin das das eine oder andere Bruchstück dieser
beiden Werke Ausnahme finden.
Dieterich ahnte, daß er nicht alt werden würde.
Das hätte ihm Schonung auferlegen sollen. Aber
die kannte er nicht und wollte sie trotz aller besorgten
Zureden nicht kennen. War ihm ein Problem klar
geworden, so setzte er die Nächte daran, um seine
Gedanken in einem Zug niederzuschreiben, unbe
kümmert darum, welches die Anforderungen des
Tages sein würden. Vor die Wahl gestellt zwischen
einem kurzen Leben in Tätigkeit oder einem langen
Leben in Untätigkeit, hätte er gewählt wie Achilleus.
Nur das bewirkte die Vorahnung von seinem frühen
Ende, daß er seine Arbeiten aus bestimmte Ziele
konzentrierte, das hat er selbst ausgesprochen. Dies
ist der Grund, weshalb er die mehr philologischen
Fragen, die ihn doch .früher gereizt hatten, in den
letzten Jahren bewußt zurücktreten ließ.
Vieles von dem, was er plante, wird für alle Zeiten
unvollendet bleiben. Aber nicht verloren ist das, was
er seinen Schülern eingepflanzt hat. Er erinnerte
gern an das schöne Wort Useners: „Nur das im
Menschen ist dauernd, was in den Herzen anderer
fortlebt." Auch Dieterich versuchte das. was er seinen
Schülern gab, so eindringlich zu gestalten, daß es
wirklich zu Herzen ging. Und nicht nur eindringlich,
sondern auch wissenschaftlich ehrlich wollte er seinen
Vortrag. Darum bereitete er sich für Kollegia und
Übungen stets sorgfältig vor lieber kürzte er den
Schlaf, als daß er sich mit dem Schein einer Lösung
zufrieden gegeben hätte.
Die Begeisterung, mit der Dieterich seine Auf
fassung von der Ausgabe des Lehrers vertrat, ist
vielleicht das Beste gewesen, was er den Philologen,
die durch seine Schule gingen, mitgegeben hat, wer
dafür offenes Gehör hatte, der ist auch seinen Schülern
wieder ein guter Lehrer geworden. Was fie Dieterich
verdankten, wußten die Heidelberger Studenten wohl.
„Es ist, als wäre uns der Vater gestorben", war
ihre Stimmung in jenen Maitagen, für einen Lehrer
die schönste Grabschrist.
Wo Albrecht Dieterich hinkam, erwarb er sich
Freunde aus der Schule, als Student, im Süden,
unter den Dozenten, deren Kollege er war. Seine
freundliche, ungezwungene Art, sein sonniges Lachen
gewann sofort die Herzen. Die heitere, humorvolle
Überlegenheit über die Kleinlichkeiten des Daseins,
seine starke Lebensfreude machten den Gleichgesinnten
bald mit ihm vertraut. Seine Begeisterung für
alles Schöne und Große riß mit sich fort, sein
Ringen mit den höchsten und letzten Problemen der
Menschenseele erweckte den Drang zu gleichgerichteter
Mitarbeit. Wo Dieterich solche Empfindungen fand,
hat er sie reich erwidert; es war ihm Bedürfnis,
Freunde zu haben. Wer sich Dieterichs Freund
nennen durfte, wird nie vergeffen, was er ihm verdankt
für wiffenschastliche Erkenntnis und Durchbildung
des inneren Menschen. Am herrlichsten aber waren
die Stunden, wenn Albrecht Dieterich in vertraulicher
Zwiesprache, über Raum und Zeit erhaben, sein
Inneres erschloß und alles, was dort webte und wogte,