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mit unerschütterlicher Festigkeit vertretenen Stand
punkt des Regenten trat die grade entgegengesetzte,
alle Konsequenzen der konstitutionellen Theorie
ziehende Tendenz der Volksvertretung gegenüber,
und so konnte es nicht ausbleiben, daß zwischen
Regierung und Stünden immer uoit neuem
Reibungen und Konflikte entstanden, die sich
schließlich bis zu dem bekannten verhängnisvollen
Versassungskampf verschärften.
Es würde über den Rahmen der Aufgabe, die
ich mir gestellt habe, hinausgehen, wollte ich in
eine nähere Erörterung der Verfassungs-Streitig
keiten und -Kämpfe eintreten; es kann mir heute
nur darum gelten, au diejenigen geschichtlichen
Thatsachen kurz zu erinnern, die für eine Würdi
gung der Persönlichkeit des Kurfürsten Friedrich
Wilhelm von besonderer Bedeutung sind und die
es erklärlich machen, daß bei der Beurteilung
dieses Fürsten der Einfluß der Parteileidenschast
zu Übertreibungen und Entstellungen geführt hat.
Die eine Zeit laug landläuflge und von manchen
Seiten geflissentlich genährte Vorstellung, die
Regierung Friedrich Wilhelms sei eine vollständige
Mißregieruug gewesen, unter der das ganze hessische
Volk als unter einem schweren Druck geseufzt
habe — diese Vorstellung ist von Dr. Otto
Bähr in feiner Schrift „Das frühere Kurhesfeu"
als völlig unhaltbar erwiesen und gründlich wider
legt worden. Die Ausführungen dieses als be
deutender Jurist rühmlich bekannten Schriftstellers
sind um so bemerkenswerter, als sie aus der
Feder eines entschiedenen Gegners des politischen
Regierungssystems des Kurfürsten geflossen sind.
Bähr hat dargethan, daß sich der Kurstaat bis
in die letzte Zeit seines Bestehens einer trefflichen,
wohlfeilen, raschen und völlig unabhängigen Rechts
pflege erfreute, daß seine Verwaltung — besonders
auf kommunalem Gebiet — eine gesetzlich streng
geregelte war und daß seine finanziellen Verhält
nisse vorzügliche waren. Bähr hebt ferner hervor,
wie grade unter der Regierung des letzten Kur
fürsten der hessische Bauernstand durch Ablösung
der Grundlasten und Errichtung der Landeskredit
kasse gehoben, wie Handel und Gewerbe durch
zeitigen Beitritt Kurhessens zum Zollverein und
durch Eisenbahnbauten gefördert wurden und wie
wenig die ganze Bevölkerung mit Steuern be
lastet war.
Auch der Person des Kurfürsten läßt Bähr
im wesentlichen Gerechtigkeit widerfahren. Den
Hauptcharakterzug Friedrich Wilhelms nennt er
dessen unbegrenzten Fürsteustolz. In der That
gab dieser Stolz die unerschütterliche Festigkeit in
der Abweisung aller Versuche, maßgebenden Ein
fluß zu üben, und war der letzte Grund einer
völligen Gleichgültigkeit gegen die Volksmeiuuug
und gegen die als deren Organ sich gerireude
Presse des In- und des Auslands. Er war aber
auch die Wurzel der Meuschenverachtung, die
gelegentlich in dem schroffen Wort zum Ausdruck
kam: „Meine Diener, hoch wie niedrig, sind in
meine Hand gegebene Schwämme, die ich nach
Gefallen ausdrücke und daun wegwerfe." Nicht
weniger war es Ausfluß dieses Fürstenstolzes,
wenn Friedrich Wilhelm auf einen Vorschlag,
durch veränderte Einrichtungen in der Hofverwal
tung Ersparnisse zu machen, kopfschüttelnd er
widerte: „Das paßt sich nicht für mich, ich führe
ja keinen Haushalt, ich führe eine Hofhaltung,
von der die Leute leben sollen."
Bähr hebt anerkennend hervor, daß der Kur-
sürst durchaus keine Günstlinge (weder männliche
noch weibliche) gehabt habe, daß ihm persönliche
Unterwürfigkeit zuwider gewesen, daß deshalb
unter seiner Regierung das Land frei geblieben
i von Nepotismus und Protektion und daß man
ein Streberthum nicht gekannt habe. Er rühmt
vom Kurfürsten, daß er von Hans aus durchaus
! nicht geizig, daß er wohlthätig gegen Arme ge
wesen und daß es ihm nicht an Gewissenhaftigkeit
in solchen Dingen gefehlt habe, wo er sich bewußt
gewesen, eine Pflicht erfüllen zu müssen.
Weiter giebt Bähr zu, daß es dem Kurfürsten
auch an Rechtssinn nicht gefehlt habe, der sich
freilich vor allem in eifriger Bewahrung seiner-
eigenen Rechte, dann aber doch auch in der Achtung
vor einem Richterspruch — selbst wenn er ihm
persönlich ungünstig war — sowie darin gezeigt
habe, daß der Fürst bei Ausübung des Begnadi
gungsrechts, namentlich bei ihm vorliegenden
Todesurteilen, mit der größten Sorgfalt, ja
Ängstlichkeit zu Werke ging, und daß es sein
eifrigstes Bemühen war, in den Fall einzudringen
und sich selbst ein Urteil zu bilden.
Den Schlüssel dazu, daß solche unzweifelhafte
Regententngenden auf die herrschende Vorstellung
von der Persönlichkeit Friedrich Wilhelms so
wenig Einfluß gehabt haben, sucht Bähr in der
alten Erfahrung, daß dem Menschen am wenigsten
persönliche Unliebenswürdigkeit verziehen werde,
sowie darin, daß dem Kurfürsten vor allem das
gefehlt habe, was man doch von einem Fürsten,
in dessen Hand das Geschick von Hunderttausenden
gelegt sei, noch mehr als von jedem Andern er
warte: das menschliche Wohlwollen.
Beide Vorwürfe der Unliebenswürdigkeit und
des Mangels an menschlichem Wohlwollen sind
in der Uneingeschränktheit, in der sie erhoben
werden, keineswegs begründet.