„Eine herrliche Fahrt", unterbrach sie nun das
Schweigen. „Sehen Sie, wie die Sterne funkeln am
großen Weihnachtsbanm und wie der Wald so zu
traulich herüberblickt. Es ist doch eine schönere
Welt hier draußen wie in der dunstigen Stadt.
So frisch, so gefestet iu sich selbst."
„Aber Fräulein, die Bälle, die Salons, die
Konzerte — —!"
„Halten Sie ein! Was ift's damit? Fühlen
Sie sich nicht glücklich hier auf dem Lande, hier
in den Bergen? Haben wir nicht im Sommer
mehr gehabt in den weiten Hallen der Wälder bei
Vogelfang und Kuckuckruf? Was bedeutet da ein
stiller Winter!"
Gierig lauschte er ihren Worten, und seine Stimme
zitterte, als er fragte: „Könnten Sie, das ver
wöhnte Großstadtkind, hier leben in Zufriedenheit?"
„Sicherlich, ich strebe sogar danach!"
„Aber, — Sie werden Ihrem Manne doch folgen
müssen?" Das klang doch recht komisch, und be
lustigt entgegnete sie: „Freilich; aber ich kann ihn
mir danach aussuchen!" Und das kam gerade so
komisch herausgesprudelt. Es lag eine ziemliche
Dosis Übermut in den Worten. Der Doktor schwang
die Peitsche, die Pferde machten einen Seitensprung,
daß der Schlitten umzustürzen drohte und Nelly
fast auf des Gefährten Schoß geschleudert wurde.
Taun flog der Schlitten dem Gipfel des Berges
zu. Von keinem Laut bewegt, lag die krystallene
Luft auf den Höhen. Vertraulich nickten die Schnee
häupter der Bäume. Die Pferde fauchten nird
tummelten sich, übermütig mit den Köpfen spielend,
vor dem Schlitten dahin. Irgendwo, weit hinter
den Bergen krachte das Eis und die frostige Nacht
erbebte ... Er hatte das Gefühl, als schmiege
sie sich fester an ihn, und er neigte sich sanft nach
ihr hinüber. Keines wagte die Stille zu brechen . . .
Ta tönten aus verschiedenen Walddörsern die Christ
glocken heraus und weckten in den Bergen ein
wunderbares Wiederklingen.
„Christnachtglocken!" sprach sie leise vor sich hin.
„Und wer sich ihrer freuen kann", erwiderte er
melancholisch. „Einst im Elternhaus — ja —
aber jetzt so einsam —"
Nelly wurde bewegt bei diesem elementaren Herzens
erguß des Mannes. Unbewußt legte sie die leichte
Hand auf seinen Arm, und ihre Worte klangen
tröstend, als sie sprach: „Aber ich erst. Wenn ich
Alma nicht hätte, wenn ich mich nicht in das liebe
Bergnest flüchten könnte!"
„Vor wem? Wer will Ihnen ein Leid thun?"
Resigniert klang es zurück: „Mein Vormund."
„Das darf nicht sein!" sagte der „stille Doktor"
bestimmt, und seine in sich fest beharrende Persönlich
keit kam zum Durchbruch, gerade so sicher und
wuchtig, als rede er in einer Ärzteversammlung,
als gälte es, seine reichen Kenntnisse in die Wag
schale zu werfen, eine schwierige Frage zu entscheiden.
„Ich vertraue auf Ihre Schwester!"
„Auch ein wenig aus mich?"
„Ja", flüsterte sie leise.
Dann schwiegen sie wieder. Der Schlitten eilte
bergab. Zwischen den Baumstämmen funkelten die
Lichter des Städtchens in die Nacht, und schon war
die große Kirche erhellt. Den beiden Menschen
kindern war es, als schauten lachende Engelsköpfe
aus den hohen Fenstern zu ihnen herüber. Endlich
stand der Schlitten, das Hofthor öffnete sich, und
der Arzt führte den Besuch wohlbehalten in die
Arme seiner Schwester. Tann begab er sich, da
der Schlitten sofort von dem Knecht abgeholt worden
war, zu Fuß in sein Heim, zog sich um, besuchte
noch einige Kranke und stieg wieder zur Ober
försterei empor. Schon leuchteten die Weihnachts
kerzen im Salon und schon waren die Gaben verteilt.
„Du kommst etwas zu spät," schalt die Schwester,
„aber wir haben Dir doch etwas ausgehoben."
„Eigentlich müßte ich Ihrer auch gedenken. Sie
verdienen einen so großen Lohn. Aber ich weiß
nicht, was Ihnen zusagt, Doktorchen, und bitten
darf ich Sie nicht lassen; denn dann könnte ich es
am Ende doch nicht geben." Mit diesen Worten
reichte ihm Nelly die Hand. Der Oberförster war
mit seiner Frau etwas zur Seite getreten und
spielte mit seinem Jungen.
„Wenn er nicht wäre, würde ich am Ende doch
eine Bitte wagen und Sie — Sie könnten sie er
füllen, Nell — Fräulein Nelly."
„Wer nicht wäre?"
„Anton Lindner", gab er gepreßt zurück.
„Nun höre einmal, Alma, Dein Bruder faselt
da auch von Herrn Lindner."
Die junge Frau sprang herbei: „Er redet im
Fieber!"
Verlegen klang es von seinen Lippen, als er ent
schuldigend sprach: „Dann verzeihen Sie; aber
ich — ich —"
„Ach Du", schmollte die Frau. Sie nahm von
dem Weihnachtsbaum einen Engel herab und sagte
dann zu Nelly: „Das bist Du, und so meint er's —
da der ,stille Doktor' mit Dir!" Und damit biß
sie dem Zuckerengel den Kops ab.
Errötend schauten sich die Zwei an, errötend und
freudig beseelt. Die junge Frau verschwand verständ
nisvoll hinter den weiten Zweigen des Christbaums.
„Fräulein Nelly, wissen Sie was?"
„O, gewiß!" lachte sie.
„Fräulein Nelly, dürste ich wagen?"
„Aber nicht zu viel, Doktorchen."
Und er näherte sich ihr.