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Das Lngelchen.
Aus der Erinnerungsmappe eines Achtzigjährigen.
Don B. S. Eoester-Bifchosfshausen.
D er kürzlich beendete Krieg in Südafrika ruft in
uns allen unabweislich mancherlei Erinnerungen
an das große Jahr 1870 wach. Erinnerungen
an unsere herrlichen Siege, aber auch. Gott sei's
geklagt, großen schmerzlichen Verluste, an den Tod
so vieler tapferen Männer.
Tie segensreichen Einrichtungen des „Roten
Kreuzes" thaten auch damals schon im Verein mit
anderer freiwilliger Hilfsthätigkeit ihr Bestes, um Not
und Elend nach Kräften zu mildern, aber man verfügte
leider im Verhältnis zu dem unerwartet großen Be
darf. über eine sehr unzureichende Anzahl wirklich ge
schulter Kräfte und in den einfachsten Anforderungen
der Krankenpflege erfahrener Leute. So viele von
denen, die sich anboten, und die gewiß den besten
Willen hatten, erwiesen sich als durchaus unbrauch
bar, und manche Maid, die sich berufen glaubte.
Helden zu pflegen, sah sich in kurzer Zeit dazu
verurteilt — Kartoffeln zu schälen, Teller zu waschen
oder sonstige Arbeiten zu verrichten, von denen sie
nie geträumt hatte.
Ich war zum Chefarzt eines großen Baracken-
Lazaretts ernannt, welches sein Dasein der Initiative
und sehr thätigen Beihilfe einer hohen Dame ver
dankte und fast ganz auf deren Kosten unterhalten
wurde. Ta Ihre Königliche Hoheit mit dem eng
lischen Königshanse nah verwandt war. so hatten
wir auch mehrere englische Schwestern unter unsern
Pflegerinnen, stille, hilfsbereite, ältere Mädchen,
meist sehr brauchbar und geschickt. Sie hatten nur
den einen gemeinsamen Fehler, sie sprachen nur
englisch, und keine von ihnen machte den leisesten
Versuch, sich einige deutsche oder französische Worte
anzueignen.
Ich muß gestehen, dieser Umstand brachte mich
oft halb in Verzweiflung, ich hatte mehr zu denken,
als daß ich mich damit hätte aufhalten können,
meine englischen Sprachkenntnisse, die von vorn
herein sehr gering waren, aufzufrischen. Es war
schon mühsam genug, sich mit den französisch redenden
Patienten zu verständigen, aber das war uns bisher
noch immer geglückt, da meine deutschen weiblichen
Hilfskräfte fast alle diese Sprache soweit beherrschten,
als zur Verständigung notwendig war.
Unser Lazarett lag ziemlich nahe der Grenze,
sodaß wir stets unter den ersten waren, denen ein
großer Teil der nach Deutschland zurück- bezw.
dahin gesandten Kranken und Verwundeten zufiel.
Die großen Schlachten bei Wörth, Gravelotte,
Mars-la-Tour waren geschlagen, die leichter Ver
wundeten und Kranken, die Genesenen nnd Gefangenen
entlassen oder anderweitig untergebracht und eine
verhältnismäßige Stille nach dem Sturm — oder
vor dem nächsten — eingetreten.
So saß ich eines schönen Tages in dem kleinen
für mich abgegrenzten Raum, der den stolzen Titel
„Bureau" führte, und war mit Erledigung wichtiger
nnd eiliger Schreibereien, wie stets, bis „über die
Ohren" beschäftigt, da meldete mir ein Lazarett
gehilfe. daß eine Dame mich zu sprechen wünsche.
Kunz Schölten, ein Biedermann, den ich seiner-
großen Brauchbarkeit halber zu meinem Faktotum
ernannt, durfte sich schon ein Wörtlein über den
Dienst erlauben, und er machte auch diesmal Ge
brauch von seinem Vorrecht.
„Ich hanner gleich gesagt, der Herr Sancdäts-
raten hätt kei Zeit, awer "s is Widder so 'ne Eng
lische. se hatt mich kei Wort verstanne un nur den
Brief hier abgegäwe."
Resigniert nahm ich den Brief in Empfang, den
ich auch ohne das ihn verzierende fürstliche Wappen
sofort an den Riesenschriftzügen als von unserer
hohen Protektvrin kommend erkannte. Sie empfahl
mir in dem Schreiben dringend „Schwester Jane",
die. aus einer sehr guten Familie stammend, den
Wunsch habe, ihre Kräfte den Kranken und Ver
wundeten zu widmen. Der Wunsch der Fürstin
war für mich Befehl, so gab ich denn mißmutig
und ärgerlich und dabei gerade keinen Segenswunsch
in den Bart murmelnd. Ehren-Scholten den Auf
trag. die Schwester hereinzuführen. Die Thüre lag
dem Fenster gegenüber, so daß der Strahl der sich
zum Untergang neigenden Sonne gerade die Gestalt
der eintretenden kleinen Engländerin traf und sie
mit einem Glorienschein umgab.
Ich alter wetterfester Knabe starrte sie schier-
sprachlos vor Erstaunen an. Nie in meinem Leben,
dünkte mir, hatte ich etwas Lieblicheres gesehen als
dieses junge Geschöpf, das da in der schlichten
dunklen Tracht der Pflegeschwestern vor mir stand.
Schön war gar kein Ausdruck für sie, ein fast über
irdischer Reiz lag in diesem blütenjungen Gesichtchen,
um welches die Löckchen wie gesponnenes Gold
flimmerten und zitterten und in der Sonne leuchteten.
Unter einem unbeschreiblich zierlichen Näschen lag
ein halbgeöffnetes frisch rotes Kindermäulchen, ein
weiches rundes Kinn schloß das Gesicht ab. Und
die Augen! Solches Blau hat nur Italiens Himmel
aufzuweisen. Leuchtend und zugleich einen ganzen
Himmel an Liebe und barmherziger Güte verratend.