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Am 27. Februar des Jahres 1821 starb
der Kurfürst Wilhelm I., und Wilhelm II. trat
die Regierung au, sofort bemüht, durch eine neue
Organisation des Staatsweseus den Zeiterforder-
uisfen möglichst zu entsprechen. In der Blüte
seiner Jahre stehend, vermählt mit der Schwester
eines der mächtigsten Monarchen Deutschlands,
versehen mit wohlgefüllten Schatzkammern, fehlte
ihm nichts, um eine hervorragende Stelle unter
den Bundesfürsten einzunehmen, sein Land zu
einem der glücklichsten Staaten zu machen. Dies
Glück aber sollte ihm nicht beschieden sein.
Zwischen den Fürsten und seine Familie war
schon längst die in Hessen bis auf den heutigen
Tag noch allbekannte Gräfin Reichenbach getreten,
die nun gar bald, einem bösen Dämon gleich,
auch den Fürsten mit seinem Volke entzweien
sollte. Die ehelichen Zerwürfnisse waren damals
aber noch nicht so weit gediehen, daß nicht kurz
nach dem Regierungsantritt Wilhelms II. sein
königlicher Schwager. Friedrich Wilhelm III. von
Preußen, ihn in Wilhelmsbad, wo er sich mit
seiner Familie befand, im Frühling 1821 besucht
hätte. Die ganze Umgegend, besonders die feinere
Hanauer Gesellschaft, füllte die Anlagen und
erfreute sich an dem Anblick der hohen Herr
schaften, die damit nicht geizten. Eine Augen
zeugin hat dem Schreiber dieses noch erzählt, wie
die kurfürstliche Familie mit dem König vor
dem Schloß den Thee eingenommen habe und
der damals 19jührige Kurprinz in schwarzem
Frack und Escarpins aus dem Schloß kommend,
sich über seinen Anzug sehr amüsiert und sich
lachend betrachtet habe, ebenso belustigt Hütten
ihn auch seine Eltern empfangen. Wahrscheinlich
würde die Veranlassung zur Heiterkeit seine damals
noch sehr jugendlich-schmächtige Erscheinung in
dem neuen Ballanzug gegeben haben, da der Prinz
schon damals wohl am liebsten Uniform trug.
Diese Tage in Wilhelmsbad mögen die letzten
gewesen sein, an denen man die fürstliche Familie
in herzlicher Weise vereinigt sah, denn von Tag
zu Tag wuchs der Einfluß der Gräfin Reichenbach
auf ihren fürstlichen Freund sowohl, wie auf die
Regierungsangelegenheiten. Die Ereignisse der
damaligen Zeit sind einem spannenden Drama zu
vergleichen, das sich in den höheren Kreisen vor
dem Augen des gesamten Volkes entwickelte, bis dies
zuletzt selbst an der Handlung teilnahm und mit
elementarer Gewalt den Schlußakt herbeiführte.
Eine packende Szene dieses Dramas läßt das
Volk in der Nacht des 31. Januar 1822 im
Neuen Stadtbausaale zu Kassel auf einem der
vom Hostheaterinspektor, Ballet- und Fechtmeister
Brämer veranstalteten Maskenbälle spielen.
Die geheimnisvolle Geschichte von dem Giftmord
des Hoflakaien Bechstüdt ist übrigens in der
letzten Zeit so ausführlich in auswärtigen Blättern
und teilweise auch im „Hessenland" behandelt
worden, daß der Hinweis darauf genügen möge,
zumal der Sachverhalt bis heute unaufgeklärt
geblieben ist. Seit jenem mysteriösen Vorfall
scheint aber das Mißtrauen in dem Gemüt des
Prinzen Wurzel gefaßt zu haben. Nach Beendi
gung der Untersuchung, die wegen des Bechstüdt-
schen Falles -geführt worden war, reiste der
Prinz im Juni 1822 in Begleitung des Obersten
von Langenschwarz und des Kapitäns von
Steuber nach der Schweiz, wo in Lausanne
längerer Aufenthalt vorgesehen war, den der Kur
prinz jedoch früher, als der Kurfürst es bestimmt
hatte, abbrach, um nach Kassel zurückzukehren.
Sodann folgte ein Besuch mit seiner Mutter und
seinen Schwestern in Berlin und Potsdam bei
der königlichen Familie, an den sich für den
Prinzen die angenehmsten Erinnerungen knüpften.
In Kassel hatte sich dagegen ein drohendes Wetter
Zusammengezogen, das bald darauf zum Ausbruch
gelangte.
Einer der Lehrer und Vertrauten des Kur
prinzen war der später berühmt gewordene Joseph
Maria von Radowitz, damals noch kurhessischer
Artilleriehauptmann, der den jungen Prinzen für-
feine staatlichen Ideale zu erziehen suchte. Es
konnte nicht ausbleiben, daß der Kurfürst hiervon
Kunde erhielt, sowie auch den Verdacht nährte,
die jüngeren Offiziere in der Umgebung seines
Sohnes trieben eine ihm feindliche Politik und
unterstützten die sich im Lande bemerklich machende
Agitation für Einberufung der Landstünde, welche
er nicht für notwendig erachtete. Die Folge war,
daß der kurprinzliche Kreis jäh auseinandergerissen
wurde, eine Maßnahme, die einen tiefen Eindruck
hervorrief. Der Kurprinz wurde nach seiner
Rückkehr von Berlin im Sommer 1823 in
die Universitätsstadt Marburg geschickt, um da
selbst seine Studien fortzusetzen, Radowitz nach
Ziegenhain verwiesen, von wo er sich jedoch ohne
Abschied in das Ausland begab, um später in
die Dienste des Prinzen August von Preußen
zu treten?) In Marburg wohnte der Kurprinz
*) H. von Treitschke in seiner „Deutschen Geschichte
im 19. Jahrhundert" 5. Teil, S. 20 schreibt: „Dann
wurde er (Radowitz) aus Hessen vertrieben, weil er
für die mißhandelte Kurfürstin ritterlich eintrat". Rado
witz gehörte allerdings zu der Partei des Kurprinzen, die
gegen die Reichcnbach Front machte, aber von einem
persönlichen Eintreten für die Kurfürstin weiß weder der
zeitgenössische Wipper m a n n (Knrhessen seit dem Be
freiungskriege) noch Friedrich Müller (Kassel seit
70 Jahren) etwas zu berichten.