83
stand in gewohnter Feierlichkeit und in der ge
wohnten, buschigen Perücke am Dirigentenpult
und wollte eben das Zeichen zum Beginn der
Sarastro-Arie geben. Da trat Binder vor, mit
der in unverfälschtem Lerchenfelderisch, im tiefsten
Ton der Leutseligkeit ertheilten Weisung: „Wissen
S', Sö müass'n a biss'l aus mi schauen . .
Wann i sag' — Bau—u—se. dann halt'n' S'
aus, hör'n S', dann haßt's aus—halt'n!" Spohr,
der Styl-Puritaner, blickte majestätisch auf den
berühmten Sänger des berühmten Kärntnerthor-
Theaters und gab schweigend dem Orchester das
Zeichen, anzufangen. Es währte nicht lange,
da unterbrach Binder mit dem Kommando:
„Bau—se!" Spohr kümmerte sich nicht im
Geringsten um den von Binder beabsichtigten
„Schlager" und dirigirte weiter, als ob er Binder's
Gebot gar nicht vernommen hätte. Gereizt stürzte
Binder an die Rampe und donnerte noch ge
waltiger, als zuvor: „Bause!" Spohr klopfte
nun ab und bemerkte mit diplomatischer Ge
messenheit, daß er solche Winke nicht zu beachten
vermöge. Daraufhin ging Binder mit langen
Schritten und verschränkten Armen bis zum
Souffleurkasten, maß Spohr mit zornigen Blicken
und brach dann brüllend los! „Sö woll'n mir
not parir'n? Sö alter Melonenkopf, Sö . .
Binder's weitere Schmähreden verhallten im
Tumult des Orchesters, das sich wie ein Mann
erhob und mit Spohr das Hans verließ. Wenige
Minuten später kam ein Abgesandter des Inten
danten auf die Bühne, händigte dem Herrn Binder
das volle, für drei Gastspiel-Vorstellungen be
dungene Honorar aus und überbrachte ihm zu
gleich die bestimmte Wcisilng, das Theatergebände
auf der Stelle zu verlassen. Sebastian Binder
machte sich denn auch unverzüglich auf nach dem
allernächsten, renommirten Keller. Es währte
nicht lange, bis er die harten Thaler der Kasseler
Hoftheaterkasse in Bier und Wein umgesetzt hatte;
in Wien sollte der „blade 23iubcr" späterhin
nicht nur als zweiter Nodenstein Hab' und Gut
„veritrinken"; als leibhaftiger Doppelgänger des
„Armen Augustin" vergeudete er seinen herrlichen
Baß auf dem „Brettl" des „BvlkSsüngers" und
verkam in namenlosem Elend, obwohl seine seltenen
Stimm-Mittel fast bis an sein Lebensende das
Staunen aller Kenner erregten. Gabillon er
götzte die groteske Kasseler Hanswurstiade Sebastian
Binder's außerordentlich: ein Falstaff von solchem
Umfange des Leibes, des Durstes unb des Organs
beschäftigte ihn als unvergeßliches Modell. Denn
obwohl er in Liebhaber- und Heldenrollen Erfolg
auf Erfolg errang, machte er feinen näheren Be
kannten gegenüber kein Hehl daraus,.daß er das
Fach der Jntriguanten, Charakterspieler und
Chargen für feine eigentliche Sphäre halte. Und
als eines Abends im Atelier Katzenstein's dieser
Maler und der geistvolle Schauspieler Pauli
Zweifel in seine Befähigung für solche Aufgaben
setzten, spielte er ihnen den „Franz Moor" vor.
„Nie werde ich den großartigen Eindruck ver
gessen", schreibt uns Katzensteiu. „Mit derselben
Meisterschaft las er uns den ,Jagck und noch
andere bedeutende Rollen vor. Seine Auffassung
von ,Richard III/ war so originell und feine
Stellungen waren so heroisch, daß ick eine Skizze
davon entwarf. Im Kreise gleichaltriger Künstler
und Kollegen war er immer das belebende Element,
und durch seine drastische Darstellung komischer
Szenen vermochte er die größte Heiterkeit zu
entfesseln."
Man sollte denken, daß ein so bildungs- und ver
wandlungsfähiger Künstler, der rasch ein Liebling
des Intendanten, des Publikums, seiner Berufs
genossen unb der Gesellschaft geworden war, immer
festeren Fuß in Kassel hätte fasse:: müssen.
Allein mit dem Kurfürsten war kein ewiger
Bund zu flechten. Gegen Ende der Saison hatte
der junge Heldenspieler, in Erwartung der baldigen
Ferien, seinen Schnurrbart stehen lassen und mit
Stolz und Liebe zu besonderer Vollkommenheit
herangepflegt. Das entdeckte der Kurfürst eines
Tages und ließ Gabillon „befehlen", diesen sträf
lichen Schnurrbart sofort abzunehmen. „Gewiß
werde ich das thun", war die Antwort, „sobald
ein Stück auf dem Repertoire erscheint, das ein
bartloses Gesicht erfordert." Nun war aber auf
den: laufenden Spielplan keine solche Vorstellung
in Sicht. -Der Kurfürst beharrte jedoch gleichwohl
auf seiner Anordnung: der Schnurrbart müsse
augenblicklich fallen, widrigenfalls Gabillon in
längstens 24 Stunden das Kurfürstenthun: zu
räumen habe. Der Künstler erwiderte lachend,
dazu habe er mit der Eisenbahn nicht einmal
eine halbe Stunde nöthig. Ein Witzwort, das
rasch Flügel bekam und, da es insbesondere in:
benachbarten Hannover nicht wenig Schadenfreude
hervorrief, vielleicht uicht ganz ohne Einfluß auf
Gabillon's sofortige Einladung zu einem Gastspiel
an die königliche Hofbühne für den nächsten
Herbst war.