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liederdichter hervorzubringen, wenn nicht Naumann
größeren Formensinn besäße und entwickelte, als
mit dem eigentlichen Volkslied verträglich ist.
Die Grenze ist wohl nur kaum überschritten, aber
sie ist es. Erstaunlich bleibt dabei der Umstand
selbst, daß sich der Dichter eine solche Sicherheit
der Form hat aneignen können. Denn bloßes
Talent ist das nicht, sondern Uebung, und vor
allem das Ergebniß einer gewissen Kenntniß von
anderen poetischen Erzeugnissen, sodaß man an
nehmen muß, daß sich Naumann das Wenige,
was ihm von literarischem Material zugänglich
gewesen ist, wohl zu Nutze gemacht hat. Sein
feiner künstlerischer Takt hat ihn offenbar ebenso
zuverlässig dabei geleitet, als er sich in seinem
eigenen Schassen wohlthuend bemerkbar macht.
Als Grundton seiner Gedichte läßt sich eine
fromme, sehnsüchtige Resignation bezeichnen.
Heinrich Naumann ist ein Dichter der Sehnsucht,
der irdischen und der himmlischen Sehnsucht.
Das viele Schwere, was er hat durchmachen
müssen, läßt ihn einen Jammer empfinden nach
dem wenigen (äußerlich) Guten, was er aus Erden
gehabt hat, und mehr noch nach dem, was er
von einem besseren Leben über der Erde hofft.
Aber auch an seiner irdischen Heimath hängt er
wie jeder tiefere Mensch mit allen Wurzeln seines
Wesens, und wo er (wie in seiner Militärzeit)
von ihr getrennt ist, da wird seine sehnsüchtige
Stimmung doppelt stark, doppelt, weil auch hier
sich der Blick immer wieder auf die Welt des
Jenseits lenkt.
Eine vorwiegend erliste, bisweilen auch einer
gewissen kindlichen Heiterkeit, ja sogar Schalk
haftigkeit nicht abgeneigte, pflichttreue und sehr-
weiche Natur ist es, die uns in seinen Gedichten
entgegentritt. Was aber ihren schönsten Vorzug
bildet, das scheint mir die ganz wundervolle Wahr
haftigkeit und vollendete Einfachheit des Aus
drucks zu sein. Diese Schlichtheit und Ehrlichkeit
der Rede, diese absolute Schlagkraft, das genau
zu sagen, was gesagt werden soll, deckt sich wohl
scheinbar mit dem vorhin gerühmten Talent der
Form, ist aber doch noch etwas Anderes, Größeres,
nämlich eine sittliche Eigenschaft. Und das ist
um so höher anzuschlagen, als gerade die jetzige
Künstlergeneration in dem an sich löblichen Be
streben, möglichst „natürlich" zu sein, sich im
Gegentheil vielfach höchst unnatürlich geberdet.
Die Eintheilung der Gedichte Naumann's (deren
Rubriken übrigens, ich weiß nicht, ob absichtlich
oder zufällig, sich reimen) entspricht dem Lebens
lauf des Verfassers. „Aus Lieb' und Leid"
schildert die beglückenden und schmerzlichen Er
fahrungen einer jungen Liebe, worauf die besonders
originelle Liedergrnppe „In Königs Kleid" von
seinem Soldatenleben im Elsaß erzählt und der letzte
Theil „Aus heiterer und ernster Zeit" (das „Heitere"
fehlt aber fast ganz) sich mehr in allgemeinen
Zustünde!: und Betrachtungen hält. Wenn ich
die für mein Gefühl schönsten Lieder namhaft
niachen sollte, so würde ich außer den im „Hes
sischen Dichterbnch" aufgenommenen „Am Mutter
grabe" (S. 25*) und „Am Weihnachtsabend"
(S. 71) gleich das Eingangsgedicht „An den
freundlichen Leser" (S. 1) und besonders die
beiden tiefergreifenden Lieder „Auf dem Friedhof"
(S. 52**) und „Abschiedsgruß" (S. 63**) hervor
heben, fernerauch das feinschattirte „Im Manöver"
(S. 79) und das sich wirkungsvoll steigernde
Stimmungsgedicht „Sehnsucht in: Lenz" (S. 113),
ohne damit andere, vielleicht ebenbürtige, herab
setzen zu wollen.
Als Ergebniß meiner Betrachtung könnte ich
nur nichts Besseres wünschen, als daß ich in recht
vielen meiner hessischen Landsleute die Lust an
geregt hätte, sich durch Anschaffung der Gedichte
von Heinrich Naumann ein Verdienst sowohl um
ihn selber wie um die gute Sache zu erwerben
und zugleich sich einen reinen Genuß zu bereiten.
Denn es ist meine ehrliche Ueberzeugung, daß sich
keii: für echte Poesie ernpfänglicher Leser betrogen
sehn wird. Vielmehr muß sich jeder von diesen
tiefe:: und wahren Herzenstönen in: Innersten be
wegt fühlen und sich der Thatsache froh bewußt
werden, daß auch noch heutzutage trotz aller Ver
kümmerung, Entartung nnd systematischen Los
lösung von jeden: Autoritäts- und Pietätsgefühl
dein: doch eil: beträchtlicher Theil urgesunder
Kraft und Sittlichkeit in unserem Volke w::rzelt,
da ohne dieser: Grundstock im Charakter des
deutsche:: Stammes Erscheinungen wie Heinrich
Naumann einfach unmöglich wären. Milldestens
sollte die Gedichtsammlung in keiner Volks- und
Schulbibliothek fehlen.
Es liegt mir noch eine stattliche Reihe un
gedruckter Lieder vor, worunter sich manches Schöne
findet, auch des Druckes wohl Werthe. Doch scheint
nur der Dichter die Peripherie seilles Talentes
bereits durchmessen zu haben, und wenn er, wie
ich höre, statt des angeerbten schweren körperlichen
lieber eine:: geistigen Beruf ergriffen hätte, so ist
die Nichterfüllung seines Wunsches persönlich zwar
zu bedauern, für seine Begabung aber meinen:
Dafürhalten nach unerheblich. Denn was er
Eigenes leistet, leistet er vollauf auch unter den
Umständen, wie sic sich nun einmal gefügt haben.
*) In: vor. Jahrgang, S. 201, abgedruckt.
**) Vergl. das vorliegende Heft.