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tobten, haben bekanntlich auch unser altes Stammland in
Mitleidenschaft gezogen, wenn es Hier auch glücklicher
weise nicht zu solchen Ausschreitungen und Blutvergießen
kam, wie beispielsweise in Berliiu Im Gegentheil hat
die ganze Bewegung bei uns, wenn sie auch des Ernstes
nicht ermangelt, einen grotesk-komischen Zug, und diesen
Umstand hat denn auch der Herr Autor mit seinem Ver-
ständniß herausgefunden; denn er spiegelt sich fast Seite
für Seite in dem vorliegenden Buche wieder. Der Revisor
Morgelhahn bei der Kurfürstlich Hessischen Steuer-
verwaltung. ein alter Student, steht in der Mitte der
Ereignisse; zwei Seelen wohnen in ihm, der Geist der
Reaktion und jener der Revolution, der Wühlhuber und
Metternich, beide liegen sich in den Haaren, so lange, bis
mit dem Eintritt geordneter Verhältnisse der letztere
obsiegt und der Titularrath als reise Frucht vom
Schicksalsbaume dem Wohlgesinnten in den Schooß fällt.
Seine bessere Hälfte hat eine ähnliche Wandlung bereits
durchgemacht, früher eine begeisterte Auhüngeriu des
Napoleonkultus, ist sie nun die enragirte Republikanerin
geworden, sie nimmt, wie alle Helden der damaligen Zeit,
den Mund gewöhnlich sehr voll, und auch ihre Answärterin
Utterstätt arbeitet sehr fleißig in derselben Branche,
marschirt au der Spitze der vom Zeughanssturm heim
kehrenden Rotten und bethätigt ihren Drang nach Freiheit
auch sonst ans mancherlei Art. Daneben spielt ein „junger
hübscher Leutnant vom Leibregiment" die Rolle des An
beters der bei Revisors wohnenden reizenden Friederike
und führt sie schließlich nach den üblichen Verwickelungen
auch heim, wie es für einen humoristischen Roman nicht
mehr wie recht und billig ist. Auf breitem Grunde ent
rollt so der Verfasser ein bunt bewegtes Bild der poli
tischen Vorgänge, in welche jene Personen handelnd ein
greifen, eine Fülle von einzelnen interessanten Zügen,
Aussprüchen, Anekdoten u. dergl., die noch heute unter
den Vertretern von Altkassel lebendig sind, ist zu einem
lustigen Kranz zusammengewunden, und dürste hiervon
Manches auch der ernsteren historischen Forschung nicht
unwillkommen sein. Ob im Einzelnen der Herr Autor
mit der geschichtlichen Wahrheit aus diesem und jenem
Grunde nicht zuweilen Versteckspiel getrieben, mag der
Leser au der Hand des fesselnden Buches selbst untersuchen.
Die Darstellung ist spannend und lebendig, wenn auch
der Dialog etwas zu viel ausgebildet erscheint; dasselbe
gilt von dem humoristischen Element, das öfters au das
Lustspiel erinnert. Die stark entwickelte Handlung, das
stete Forteilen zu neuen Scenen' läßt ferner hier und da
eine Art Hemmung, ein stärkeres Gegengewicht vermissen,
wie dasselbe in dem stärkeren Betonen des Reflektirenden
und in dev Kleinmalerei gegeben ist: ein liebevolles Ein
gehen in die Situation, die Schilderung des Schauplatzes,
auf dem sich die einzelnen Scenen abspielen, des Anzugs
der Personen, kurz, der ganzen Stimmung und des
Kolorits wäre hier öfters neben der Übrigen trefflichen
Darstellung von bester Wirkung gewesen. Meister auf
diesem Gebiete sind bekanntlich Dickens und Reuter,
deren Studium in dieser Hinsicht von großem Nutzen sein
dürfte.
Große Begabung verräth der Herr Verfasser im klebrigen
in dem dramatischen Aufbau der Scenen, bei dem packenden
Kapiteleingängen und wie schon bemerkt in dem lebendigen
Humor sprudelnden Dialog. Eine nicht gewöhnliche Er
findungsgabe macht sich überall wohlthuend bemerkbar,
wie auch die Charakterzeichnung der Hauptpersonen nur
als eine treffliche bezeichnet werden kann. Der Herr Re
visor Morgelhahn ist keine jener Figuren, die heute in
diesem Zeitungsroman so heißen, morgen so, heute jenen
Rock tragen, morgen einen anderen, in dem jedoch in
jedem Falle der alte langweilige Bruder steckt, der in
hundert Romanen schon sein Wesen getrieben; ein wirk
licher Mensch, gut und plastisch herausgearbeitet, tritt
uns hier entgegen, der Typus jener nicht geringen Zahl
von Personen, welche vor .einem halben Jahrhundert die
Politik in Kassel machten.
So mag denn der Herr Revisor seinen Weg antreten;
wir wünschen ihm Glück und Segen auf die Reise. Ueberall
im Stammlande, und wo Hessen weilen, wird das Buch
willkommen sein. Ein interessanteres Weihnachtsgeschenk,
namentlich für die ältere Generation, dürfte in diesem
Jahre wohl kaum gefunden werden. Öu. Dange.
Die Bilstein er vvn Lotte Gu balle. Umschlag
zeichnung von A. Wagner. 143 S. Kassel
(Verlag von Karl Vietor, Hofbuchhandlung)
1902. Brosch. Mk. 1.50, geb. Mk. 2.-.
Unter diesem Titel legt uns im Verlag der Vietor'schen
Hosbuchhandlung zu Kassel eine neue hessische Schrift
stellerin ihr Hermann S u d e r m a n n gewidmetes
Erstlingswerk vor. Die in Berlin lebende Verfasserin
ist Witzenhäuserin von Geburt, und hessisches Gepräge
tragen auch die drei Geschichten, die in dem Bändchen
vereinigt sind. Die erste von ihnen, „Die B i l st e i n e x",
zeigt uns, verkörpert durch einen hessischen Pastoren und
dessen Patronatsherrin, die verlockenden, im praktischen
Leben aber so sehr versagenden Lehren des Buddhismus,
denen ein gesundes werkthätiges Christenthum gegenüber
steht. Im „Vorfrühling", der zweiten Geschichte,
sehen wir hellen Sonnenschein in das Herz eines Pessimisten
einkehren und einen glücklichen Liebesfrühling heraufführen,
und in reizvoller Weise wird gezeigt, wie auch einmal
altes hessisches selbstgesponnenes Linnen zum Heiraths-
vermittler werden kann. Die Schlußerzählung bildet das
„Ja-Jachen", die ergreifende Geschichte eines armen
Mädchens, das muthig sein Bündel Unglück durch die
Welt schleppt und nach seinem Tod ein kleines liebreizendes
Wesen zurückläßt, das aber in gute Hände kommt und
durch die Liebe beglückt und selbst beglückt wird. Wir
möchten das Buch nicht in dem Gedränge des Weihnachts
büchermarktes hier abfertigen, sondern behalten uns vor,
später noch einmal eingehender darauf zurück zu kommen, da
wir der festen Ueberzeugung sind, daß hier der hessischen
Literatur eine wirklich bedeutende Schriftstellerin erstanden
ist. Wenn uns nicht alles trügt, dürfen wir in Lotte
Gubalke für die Prosa das begrüßen, was uns für Hessen
Anna Ritter in der Lyrik geworden ist. K'bach.
Die Pflastermeifterin. Roman von Alfred
Bock. 170 S. Berlin (F. Fontane L Co.)
1901. Preis brosch. Mk. 2.—, geb. M. 3.—
Der Flurfchütz. Roman von Alfred Bock.
96 S'. Berlin (F. Fontane & Co.) 1901.
Preis brofch. Mk. 1.-, geb. Mk. 2.—
Auch diese beider: Werke segeln unter der Flagge der
„Heimathkunst". Der Verfasser der Kulturbilder „Ans
einer kleinen Universitätsstadt" Alfred Bock lgeb. 1859
irr Gießen) ist auf dem Gebiet der Literatur kein Neuling
mehr. Er ist der erste gewesen, der mit seinem Schauspiel
„Der Gymnasialdirektvr" (1895), das an die bekannte Affäre
der „Schiller'schen Räuber" in Gießen anknüpft, die Schule
auf die Bühne gebracht hat, und ist somit ein interessanter
Vorläufer eines Max Dreyer und Otto Ernst.
Wuchs schon diese Arbeit ganz aus heimischem Boden hervor,
und trugen schon seine Novellen „Wo die Straßen enger
werden" (1898) vorwiegend heimathlichen Charakter, so
hat er sich jetzt, da die Parole „Heimathkunst" allent
halben ertönt, mit den beiden Romanen „Die Pflaster-