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genommen, um seine Absicht zur Ausführung zu
bringen. Ebensowenig blieb ihm Muße dafür
übrig, als er im Herbst 1855 als Professor der
Theologie nach Marburg berufen ward. Die
Verslehre gab nach seinem Tode sein Landsmann
und Schüler C. W. M. Grein — der Heraus
geber des bekannten angelsächsischen Sprach
schatzes — unter dem Titel: „Die deutsche Vers
kunst nach ihrer geschichtlichen Entwicklung. Mit
Benutzung des Nachlasses von Or. A. F. C.
Vilmar" (Marburg und Leipzig 1870) heraus,
während die Wortbildungslehre, die unvollendet
geblieben war, von einem Schüler aus der Hers
felder Zeit, G. Th. Dithmar, nach dem
Manuskript Vilmar's bearbeitet und fortgesetzt
wurde (Marburg, 1871). Eine Syntax dagegen
ist nie erschienen. Heute sind diese drei Theile
der früher viel gebrauchten Grammatik längst
überholt und veraltet. Bücher, wie die von
Braune, Paul, Sievers und Wilmanns
haben ihr längst den Rang streitig gemacht, gegen
die selbst die Kausfmann'sche Neubearbeitung
der beiden ersten Theile von Vilmar's Grammatik
schwer aufkommen kann. Das; übrigens Kauff-
mann in der zweiten Auflage seiner Neubear
beitung der Laut- und Flexionslehre (Marburg,
1895) nicht einmal den Namen Vilmar's ans
dem Titelblatt gelassen hat, dünkt uns wenig
pietätvoll.
Während in den nächsten Jahren seit 1840 keine
nennenswerthe Leistung Vilmar's auf germanisti
schem Felde bemerkbar ward, trat er 1845 mit
seinem Meisterwerke, seiner Deutschen National-
Lit eratur, au die Oeffentlichkeit und erwarb j
sich damit einen Erfolg in der ganzen gebildeten
Welt, wie er allen ähnlichen Unternehmungen
bisher versagt geblieben ist. Die Begeisterung
welche Vilmar durch seinen literarhistorischen Unter
richt bei seinen Schülern hervorgerufen hatte, weckte,
wie leicht begreiflich, in weitern Kreisen Marburgs
den Wunsch, sich ebenfalls an der Schönheit der
deutschen Dichtung erfreuen zu dürfen. So hielt
Dilmar, dem allgemeinen Drängen nachgebend, im
Winter 1843—1844 die Vorlesungen, welche im
Großen und Ganzen den Inhalt seiner Literatur
geschichte bilden. Tie Vortrüge fanden Mittwochs
und Samstags im Markees'schen Saale in der
Reitgasse (heute Seebvde) statt und zwar unent
geltlich. Tie zahlreiche Zuhörerschaft bestand aus
Männern und Frauen, Professoren aller Fakul- i
täten, Lehrern, Beamten, gebildeten Bürgern mit
ihren Angehörigen und besonders aus Studireudcn.
Nach Beendigung des Vvrtragscyklus sprach man
den Wunsch aus, die Vorlesungen in einem Buche
vereinigt zu sehen. Vilmar lehnte anfangs be- !
scheiden den Wunsch ab, gab aber zuletzt dem
Drängen seiner Zuhörer nach, und so erschien
zum Weihuachtssest 1845 die erste Auslage seiner
Literaturgeschichte unter dem Titel: „Vor
lesungen über die Geschichte der deutschen
National-Literatur", nachdem er das Er
scheinen derselben vorher von dem Erfolg einer
Subskription abhängig gemacht hatte. Welcher
Gesichtspunkt ihn bei der Herausgabe leitete, ersehen
wir aus dem Vorwort zur 1. Auslage des Buches,
die später fortblieb und in der 25. Allslage aus
Wunsch wieder abgedrllckt ist: „Die Kritik war
ihr erster Gesichtspunkt nicht, sollte llnd durfte
es nicht sein; es galt mir darum, die Gegenstände
selbst in ihrer Wahrheit und Einfachheit zu den
Gemüthern Unbefangener reden zu lassen." Und
lediglich von diesem Gesichtspunkte aus und von
keinem andern sonst darf man heute, wenn man
gerecht verfahren will, über dies Buch urtheilen.
Gewiß ist Vilmar auch tu seiner Literaturgeschichte
in manchen Punkten heute durch bessere Leistungen
überholt worden, aber „veraltet" ist sie darum noch
ganz und gar nicht. Trotzdem bereits mehr als zwei
Menschenalter seit dem Erscheinen des Buches
vorbeigerauscht sind, liest es sich heute noch mit
einer Frische unb Unmittelbarkeit, als wäre es
eben erst unter dem Eindruck unserer gegen
wärtigen Verhältnisse geschrieben. Abgesehen von
der unvergleichlichen Knust der Darstellung, deren
Geheimniß in einer wohlüberlegten Abwechselung
zwischen schlichtem Berichtstil und maßvoll be
wegter Rhetorik beruht, wächst der Werth des
Werkes noch mehr, wenn wir uns vergegenwärtigen,
welche Hülfsmittel und Vorarbeiten damals Vil
mar zu Gebote standen. Eine lesbare Literatur
geschichte gab es damals noch nicht. Wohl war
Gewinns' „Geschichte der deutschen Dichtung" so
eben in zweiter Auslage herausgekommen, aber
die Lektüre dieser streng kritischen Literaturgeschichte
war dem großen Publikum nicht zuznmuthen,
ebensowenig wie der streng wissenschaftliche Kvber-
steiu'sche Grundriß mit seiner dürren, oft skelett
artigen Darstellung. Und was sonst an sogenannten
Literaturgeschichten vorhanden war, wie Franz
Horn's „Geschichte und Kritik der deutschen Poesie"
(Berlin, 1805), Rosenkranz' „Zur Geschichte der
deutschen Literatur" (Königsberg, 1836), und
Laube's vierbändige „Geschichte der deutschen Lite
ratur" (Stuttgart, 1839), konnte unmöglich das
Interesse für die deutsche Literatur befördern.
Ta trat Vilmar mit seiner für die damalige
Zeit bewunderungswürdigen Leistung auf, und
ihm gebührt das zweifellose Verdienst, zuerst das
Verständniß für deutsche Literatur in weitere
Kreise getragen zu haben. Zwar kann ihm der