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Schwäche ist. Ohne Individualismus keine Freiheit,
keine Entfaltung, überhaupt keine Persönlichkeit; keine
Entwicklung, kein Fortschritt, kein Flug in die Höhe.
In seiner mächtigen Persönlichkeit hat Fr. Nietzsche
das Recht, die Bedeutung des Individualismus
empfunden.. Mit seiner künstlerischen Sehnsucht,
seiner künstlerischen Phantasie, dem ganzen hohen
Flug seines Geistes hat er hier ein Ideal geschaut,
so schon, wie nur er es schauen konnte. Nicht
minder aber hat er auch mit seiner, durch die
geistige Arbeit, das geistige Leben (sagen wir das
Stück Kulturarbeit, das sich in ihm vollzogen) ge
steigerten Sensibilität, wie Erschöpfung der Nerven-
und Geisteskraft, und dem, zum Theil damit zu
sammenhängenden, unwiderstehlichen Verlangen nach
ungetrübtem Genuß (hier im höheren Sinn Schönheit
und Freude) auch die ganze Ohnmacht des
Individualismus gegenüber seinem Schicksal —
seinem Ideale empfunden. In der Verzweiflung
darüber und entzückt, geblendet durch die Fülle
der Gesichte, hat er sich dann einen Uebermenschen
geträumt, bis der Traum zum Wahn geworden
ist, hinter dem von allem, was den Menschen
bindet, losgelösten Uebermensch die blonde Bestie
erschien; das Recht des Starken, Edlen, Schönen,
des geborenen Aristokraten umschlug in die brutale
Macht, und die sittlichen Werthe tausendjähriger
Kulturen einer Umwerthung unterlagen.
Merkwürdig, wie zuweilen die Tinge den
Träumen und den Theorien mitspielen! Das
Schicksal des unglücklichen Dichter- und Künstler
philosophen ist in gewisser Weise für seine letzten
Schlüsse charakteristisch geworden, und gerade diese
haben vieles zum Ausdruck gebracht von dem, was
unsere Zeit an krankhaften Zuständen und zer
setzenden Elementen in sich begreift: eben eine
durch die Anstrengungen der Kultur, die ge
steigerten Leistungen überreizte Sensibilität und
Erschöpfung der Nerven und geistigen (moralischen)
Kraft, erzeugt von dem widerstandslosen Ver
langen nach Genuß, einem rücksichtslosen Egoismus,
gleichviel ob derselbe unter der hochtönenden Phrase
von der Nothwendigkeit im Kampfe um das
Dasein, dem Recht der Individualität oder auch
nur als ganz gemeine schlaue Klugheit oder bestialische
Brutalität sein Wesen treibt. Und ich fürchte,
ja mir scheint, nicht nur was an wirklich Großem
und Schönem in Geist und Wahrheit in den Werken
Fr. Nietzsche's lebt, sondern vielmehr das. was sich
an kranken, zersetzenden Elementen darin findet, hat
ihn zum Modephilosophen gemacht. Das ist nun
nicht seine Schuld. Ich bin überzeugt, wenn er
könnte, er würde manches dabei abstellen, sich für
manche Auslegung seiner Ideen, für manch' eine
Gemeinschaft bedanken.
Es ist eben ein Naturgesetz, daß sich Anlagen
und Ideen erst einmal einseitig zu einer schnell
erreichten Höhe entwickeln, um sich dann sich selbst
überschlagend, so zu sagen auch in negativer Weise
zu ihrer eigenen Grenze und Bedeutung in der
Gesammtheit zurück zu finden.
Fr. Nietzsche hat sein Theil hier gelöst, wie es
ihm gegeben war. Wir aber haben ihm nur
dankbar zu sein, daß er uns die Bedeutung, das
Recht, die Schönheit der Individualität zum Be
wußtsein gebracht hat; nicht minder auch, daß er,
einem höheren Gesetz gehorchend, ob auch aus
negativem Weg, für jeden der sehen will und
sehen kann, jener die Grenze gesteckt hat, indem sich
sein Ideal des Uebermenschen selbst zersetzt, und
der Individualismus als Princip für eine menschliche
Gesammtentwicklnng als unmöglich erwiesen hat.
Die meisten aber wollen nur sehen, was ihnen «
paßt, so kommt es, daß das zersetzende Element
der obigen Philosophie nur noch zersetzender wirkt.
Daß dem so ist, das liegt eben in den Schäden
unserer Zeit, einer Kultur, die ohne Individualismus,
ja ohne Egoismus nicht ihre eigene Reise und
Höhe hätte erreichen können; der aber auch gerade
in dem, was sie ans diese Höhe gebracht, die Gefahr
der Selbstaufhebung drohte
Und nun, von der mit aller modernen Eleganz
erbauten Villa und ihrem kranken Alaun wanderten
meine Gedanken zu dem kleinen Haus am Waldes
saum briinten im Thal, zu all' den Erinnerungen
einer großen und gesunden geistigen Aera, zuletzt
auch zu den Erinnerungen des Tages, dem Verein
„Frauenbildung-Franenstudium" und weiter.
Das Maß der Dinge, das sittliche Ideal, welches
den Uebermenschen des vergangenen Jahrhunderts
zu dem harmonischen, dem schön guten Menschen
gewandelt, das Ideal der Tugend jener Zeit auf
gestellt; die Moral, die Religion, welche im all
gemeinen die verfeinerten Verlangen, wie die ge
meine Brutalität der menschlichen Psyche zügeln,
sind im großen ganzen unserer Zeit abhanden ge
kommen —, über alles hinaus hebt der Egoismus
bedrohlich sein Haupt —, hier vor allem gilt es
ändernd einzusetzen.
Einer Zeit jedoch, die unter dem Princip
der natürlichen Entwicklung, des immer neuen
Werdens steht, läßt sich nicht länger durch ein
für ewige Dauer bestimmtes Gebot, auch keine
angeborenen Ideen beikommen. Dem Menschen,
der nur noch sich selbst kennt, den eigenen Intellekt
und seine Erfahrung, das eigene Ich und sein
Verlangen: dem die Fülle der Gesichte und Be
gierden den Sinn verwirrt, daß er den klaren
Einblick, das natürliche Empfinden für die Ge
meinsamkeit und Solidarität der Dinge verloren