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Kassel und ihrer für jene Zeit phänomenalen Be
leuchtung herablassend geäußert hat, zitirte Kinkel
nicht ohne Behagen, als wir vom Rondel aus nach
dem Königsplatz hinunterblickten. Die sarkastischen
politischen und kulturhistorischen Ausfälle, die er
dabei nach dem Gesetze der Jdeenassociatiou nicht
unterdrücken konnte, will ich hier nicht wiedergeben.
Psychologisch betrachtet erklärte ich sie mir aus der
bekannten Erscheinung, daß im langjährigen Exil
selbst hervorragende Geister zu stagniren pflegen
iinb sich zumeist in Illusionen festrennen, soweit
als die Politik in Frage kommt. Dies gilt
übrigens nebenbei' gesagt auch unter Anderen
von Fr eilig rath, den wir zusammen mit Max
Müller von Oxford bei einem Abendessen im
Kiukelffchen Hause in London kennen lernten. Die
Architektur in Wilhelmshöhe wollte dem Kunst
historiker Kinkel nicht gefallen. 1)6 gustibus rc.
Sein Vortrag über L es sing im Kasseler Kauf
männischen Verein war natürlich geistvoll, aber
man sah dem Redner die Abspannung an. Er
hatte nämlich über denselben Gegenstand schon in
einigen anderen süd- und mitteldeutschen Städten,
darunter auch Homburg vor der Höhe, zu sprechen
gehabt und hatte sich für den nämlichen Gegen
stand noch in einigen protestantischen westfälischen
Städten gebunden. Sein schweizerischer Professoren
gehalt war nicht bedeutend; und da er nach dem
Tode der edlen Johanna zum zweiten Male ge-
heirathet hatte, so mußten für die heranwachsende
Generation auch aus diesem zweiten Ehebunde nun
durch litterärische Ertraarbeit Mittel beschafft
werden. Daß Kinkel's lyrische Muse zeitweise Jahre
laug geschwiegen hat, ist wohl aus diesen und
seinen sonstigen Lebensverhältnissen unschwer zu
erklären.
Uebrigens will ich zum Schlüsse einen Aus
spruch nicht unerwähnt lassen, den er an jenem
Abend nach dem Vortrage über Lessing über das
Verhältniß zwischen Kurhessen und Preußen that,
als wir uns in einem engeren Kreise inter pocula
im Hotel du Nord zu ihm gesellt hatten. Er
hatte mit uns von den Märztagen, dem badischen
Feldzuge und der doppelten Rolle, die das hessische
Militär und die Hanauer Freischaarenturuer dabei
spielten, und von Karl Schurz iu Washington
gesprochen. Dann zur Einverleibung des Kur
staates in den preußischen übergehend, sagte er
langsam und bedächtig: „Ich weiß nicht, was ihr
Kurhessen gegen Preußen verbrochen habt. Im
dreißigjährigen Kriegsgewühl, im siebenjährigen
Krieg lind erst recht unter Napoleon habt ihr dem
größern deutschen Bruderslamme jedes Opfer ge
bracht, was doch weder Sachsen noch Baiern gethan
haben. Aber: 8ie vo8 non vobis mellificatis apes. —"
Unsere Lebenspsade haben sich seit jenen Kasseler
Tagen nicht wieder gekreuzt; aber ich habe später
noch manchen interessanten ausführlichen Brief von
ihm aus der Schweiz nach Thüringen und Eng
land erhalten, die ich gern denjenigen Freunden
des Dichters von Otto dem Schützen zur Dis
position stelle, die sich für Autographien interessiren.
Uon der Jahresversammlung des Grschichtsverriiis
Wissenschaftlicher Bericht über die gehaltenen Vorträge von Dr. W. Lange.
Bei der im August stattgehabten Jahresversamm
lung des Vereins für hessische Geschichte und
Landeskunde sprach als erster Redner der Direktor
des Kestnermuseums zu Hannover,Dr. Schuch Hardt,
über eine alte B e f e st i g u n g s l i n i e, welche er
auf dem rechten Diemeluser unlängst auf
gefunden hat. Zunächst erinnerte er daran, daß
weiter südlich eine von ihm und Dr. Böhlau ent
deckte Linie bei Knickhagen an der Fulda zwischen
Kassel und Münden beginnt und über Holzhansen,
Meimbressen, den Schartenberg nach Arolsen zu
zieht, die iu der Gegend von Usseln endigt.
Während nun der erste Abschnitt bis in die Gegend
von Grebenstein mit kleinen Kastellen besetzt war
und die alte karolingische Befestigungsweise zeigt,
ist die alte Linie in ihrem weiteren Verlaus im
Mittelalter ganz überarbeitet und verwischt, hat
vielleicht auch eine ganz andere Richtung gehabt,
deren Feststellung durch das öftere Verschieben der
Stammesgrenzen in dieser Gegend erschwert wird.
Nachdem Dr. Schuchhardt nun eine von Marburg
aus nach Norden bis zum Osning sich erstreckende
andere Kette von großen zusammengehörigen Volks-
burgen entdeckt hat, welche in der Vorzeit nicht
durch einen Wall und Graben mit einander verbunden
waren, kam er aus die Vermuthung, daß eine
derartige Befestigungsweise auch weiter südlich zur
Anwendung gebracht sei, und richtete sein Augen
merk ans die von der Natur selbst gegebene Grenz
linie zwischen Sachsen und Franken, die Tiemel.
Es gelang denn auch, längs des unteren Laufes
dieses Flusses die gesuchte Kette von Befestigungen
wirklich anszufinden. Als erstes Glied derselben
ist die Sieburg anzusehen, welche aus dem nörd-