sich jeder unwillkürlich vorlegte und die auch an
jenem Freitag Abend am Friedrichsplatze zu
älassel so lebhaft erörtert worden. Eingeteilt
zwischen den beiden Hänpttheilen der preußischen
Monarchie, schienen Natur und Interesse nur
einen Weg für den kleinen Knrstaat offen ge
lassen zn haben: den des engsten Anschlusses an
seinen mächtigen Nachbarn. Denselben Weg
wiesen auch die geschichtlichen Ueberlieferungen,
denn Hessen hatte in bcn Kriegen der vergangenen
Jahrhunderte fast stets an der Seite, niemals
aber unter den Gegnern Preußens gestanden.
Das taue auch in mancherlei den entsprechenden
preußischen nachgebildeten Einrichtungen, nament
lich im Heerwesen zum Ausdruck, zum Theil freilich
nur, in Aeußerlichkeiten, wie z. B. der mit
der preußischen ganz übereinstimmenden Uni-
sormirung — eine Aeußerlichkeit, deren Be
deutung indessen nicht unterschätzt werden darf —,
theils aber betrafen sie auch organisatorische und
das Wesen der Sache berührende Einrichtungen.
Auch die Sympathien des überwiegend größten
Theils der intelligenten Bevölkerung, namentlich
nicht zum wenigsten die des Ossizierseorps, waren
aus Preußens Seite.
Und doch schien die Politik des kurhessischen
Ministeriums andre Wege wandeln 511 wollen,
als den von der Natur vorgezeichneten. Die Hin
neigung des Kurfürsten und seiner Regierung zu
Oesterreich war während der letzten Monate in
mancherlei Anzeichen zu Tage getreten. Ich
selbst sollte einen kleinen Beweis dafür erhalten.
Alljährlich wurden dem Kurfürsten Probe
uniformen vorgestellt. Die Kleiderkasse des Re
giments hielt im Frühjahr bei den Offizieren
Umfrage, was für Unisormstücke sie sich neu zu
beschaffen gedächten. Sodann wurden so viele
ausgewählt, daß deren Neuanschaffungen eine
vollständige Uniformirung bildeten. Die Stücke
wurden durch die Kleiderkasse des Regiments be
schafft und sodann die Besteller, mit den neuen
Sachen bekleidet, dem Kurfürsten vorgestellt.
Erst wenn dieser die Proben genehmigt hatte —
was übrigens stets geschah — dursten weitere
Beschaffungen vorgenominen werden.
Im Jahre 1866 traf mich das Loos, wie schon
öfter, als „Kleiderstock" vorgestellt zu werden.
„Wir werden die Uniform wohl ändern müssen",
sprach der hohe Herr, nachdem er uns eingehend
genlustert hatte.
„Aendern, Königliche Hoheit?" fragte der
Regimentskommandeur, der uns vorstellte.
„Nun, daß wir den Preußen nicht so ähnlich
sind. Das könnte im Kriege zu unangenehmen
Berwechslungen führen", antwortete der Kurfürst.
Wir hielten das damals für einen allerhöchsten
und allergnädigsten Scherz und gestatteten uns
ein allerunterthänigstes Lächeln. Später aber ist
mir der Vorfall wieder in's Gedächtniß gekommen,
lind ich habe ihn in einem andern Lichte be
trachtet.
A» ernsteren Anzeichen sollte es bald auch
nicht fehlen.
In der Zeit vom 27. Mai bis 4. Juni fuhr
eine Division des preußischen VII. Armeeeorps, die
später einen Theil der Elbarmee bildete, auf der
Eisenbahn von Warbnrg durch Kassel. Die
Transporte bnuevtcu mehrere Tage, oder besser
Nächte lang, denn es war, jedenfalls absichtlich,
so eingerichtet worden, daß der erste Zug jeden
Abend um Va 7 Uhr in Kassel eintraf, und ob
gleich ein offizieller Empfang nicht besohlen worden
war, so fanden sich, wenigstens zu diesem ersten
Zuge, doch iinmer zahlreiche Offiziere der Kasseler
Garnison am Bahnhöfe ein, um die Preußischen
Kameraden, unter denen viele von uns Freunde
und Bekannte hatten, zu begrüßen.
All einem dieser Abende hatte ich bei Gelegen
heit meiner Anwesenheit am Bahnhöfe eine nicht
uninteressante Begegnung.
Aus welche Weise ist mir jetzt nicht mehr er
innerlich, genug, ich war mit dem preußischen
Gesandtell, General von Roeder, näher bekannt
geworden^ svdaß er mich bei Begegnungen aus
der Straße oder in der Gesellschaft oft anredete
und längere Zeit mit mir sprach. Natürlich war
auch er bei der Durchfahrt der preußischen
Trllppen durch Kassel stets auf dein Bahnhöfe
anwesend, und sv geschah es Zeines Abends, daß
ich mit ihm in ein Gespräch über die Zeitverhält-
llisse kam. Gegen Ende Mai und Ansang Juni
hielt mall den Krieg zwischen Oesterreich und
Preußen im großen Publikum noch nicht für
unbedingt unvermeidlich, und auch in Betreff der
Hinneigung der kurhessischen Regierung zu Oester
reich waren noch keine so deutlichen Merkmale
zil Tage getreten, daß mail sich ernstliche Ge
danken darüber gemacht hätte.
Unter andernl kamen wir auch aus die vor
einigen Monaten von Preußen erhaltenen ge
zogeneil Vierpfünder zil sprechen, und ich lieh
meiner Verwunderung Allsdruck, daß uns das
preußische Kriegsministerium die schon lange ver
sprochene Munition für diese Geschütze nicht liefere,
da wir natürlich ohne Munition keine Schieß-
übllngen halten könnten.
„Nuii," erwiderte der General, „Sie erwarten
doch nicht, daß wir Ihnen die Granaten liefern
sollen, woiilit Sie llils in ein paar Wochen be
schießen werden?"