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die uns von Jugend auf angeschaut und ver
standen ohne Wort, schließt sich Vieles, vielleicht
das Beste im Leben. Aber an keinem Tage tritt
dies Gefühl mit größerer Macht vor die Seele,
als am Weihnachtstage. Wir haben aber von
den Weihnachtskerzen des väterlichen Hanfes etwas
hinübergerettet in's eigene Haus, und darum
schlägt's so warm an's Herz an diesem Feste, und
hinein in die Weihnachtsmelvdie schlingt sich als
Fugensatz noch eine süße Melodie der Erinnerung
ans den Text:
„C £>cv,v Umo du erfahren
gu Jeiten. die entflvh'u.
sts kommt nach langen gahrcn
-zn dir ein süher Ton!"
Daß in nieinem elterlichen Hanse, einem Land
pfarrhaus, die Weihnachtsfeier schöner gewesen sei,
als in anderen Ehristenhänsern, wage ich nicht
zn behaupten, aber was sie für mich besonders
anziehend machte, daß es mich noch heute in
meinem 50. Lebensjahr in der Erinnerung daran
überkommt wie Wehmnth, wie Heimweh, wie
Silage der Seele um verlorenes Glück, wie ein
Fug des Inwendigen nach jenem Frieden, der
höher ist als alle Vernunft und lieblicher als
alle Lust der Welt — das war nächst der elter
lichen Liebe, von der das Herz des Kindes an
diesem Feste tiefer und wärmer als sonst jemals
berührt ward, die fortgesetzte Weihnachts
feier an den schönen Abenden „zwischen den
Jahren", wie diese still-selige Zeit zwischen
Weihnacht und Neiljahr im Volksmnnde so sinnig
genannt wird. An diesen Abenden ward wieder
holt bei nnS der Ehristbanm angezündet, es
erschien die inuntere, sangeslnstige Kinderschaar
des Schnlhanses mit noch einigen anderen Kin-
dern der Tvrsjngend, lind mtit wurden unter
Klavierbegleitung des kircheiunnsikalisch besonders
begabten Lehrers imi die Wette gesungen nicht
nur die alteil Weihnachts-Kernlieder unserer
Kirche: „Vom Himmel hoch da komm ich her",
„Gelobet seist Dil, JesnS Ehrist", „Lobt Gott,
ihr Ehristen, alle gleich", sondern mit besonderer
Vorliebe die zweistimmigen, volksthümlichen
Lieder: „C du fröhliche", „Schönster Herr
Jesu", „Tu lieber, heil'ger, sromnier Ehrist"
von E. Ae. Arndt, „Die schönste Zeit, die liebste
Zeit" vvii W. Heh niid ganz besonders gern das
Weihnachtskinderlied: „Ter Ehristbauiii ist der
schönste Ban ui". Dies letztere hatte es uns vor
allen angethan, lind als eines Abends der Vater
uns Kinder fragte, welches wohl das schönste
Lied sei, da gab ohne langes Befiiinen der kleine
Johannes aiis dein Schnlhanse frischweg die
Antwort: „Ter Ehristbanm ist der schönste
Baum". Zunächst hätte es scheinen können, als
habe auf die Frage nach dem schönsten Lied
das Lied vom schönsten Baum als Antwort am
liüchsten gelegeii, und in der That sind solche
Gleichklünge iliid Allklänge für Kinder keineswegs
bedeutungslos. Aber es war doch offenbar, daß
wirklich dies Lied vor allen andern uns Kindern
allS denk Herzelk gesungen war.
Wie sollte es auch ailderS fein? Zwar giebt
es ohne Zweifel schönere, bedeutendere, gewaltigere
Weihnachtslieder, aber bei diesem treffen doch
außerordentlich viele Vorzüge zusammen, um es
insonderheit Kindern vor allen anderik lieb zn
machen. Es trifft gar trefflich den Kindeston
llkld dazu ben fröhlichen Weihnachtston. Dabei
ist es in seinen! ganzen Aufbau nach Inhalt
lllld Form ungemein leicht behältlich. DaS
frische, feine Metrum ist dem Texte so glücklich
entsprechend. Wie sind aber erst Text und
Melodie aus einem Guß! So wundervoll
anschaulich ist die erste Strophe, so anheimelnd
vor allem schon die erste Zeile, daß Kinder da
von gefesselt uild entzückt werden müssen. Hub
daß auch Alte und Erwachsene das Lied so gern
haben, hat wohl unter andern! darin seinen
Grund, daß in einfacher Weise in den folgenden
Strophen sowohl die Heilsthat als auch die
Heilsaneignung ihren Ausdruck finden, so einfach
und doch so poetisch tief und eigenthümlich.
Darum durste auch dies Lied, das ursprünglich für
das Haus und etwa für die Christfeier in der
Schule bestimmt war, in kindergvttesdienstlichen
Feiern angestimmt werden und bei entsprechender
Strvphenanswahl ohne Bedenken in weihnacht
lichen Kindergottesdiensten selbst im Heiligthum
Verwendung finden.
Dichter und Komponist dieses Liedes, beide
unseren! knrhessischen Lande angehörig, sind, ob-
wvhl ihr Lied ans Flügeln des Gesanges durch
ganz Deutschland und selbst bis zu unsern
deutschen Brüdern jenseit des Weltmeeres ge
tragen ward, dennoch in unbegreifliche und
unverantwortliche Vergessenheit gerathen. Ueber-
all findet man das Lied namenlos abgedruckt,
hie und da mit der Unterschrift „Unbekannt".
Die allgemeine Bezeichnung: „Norddeutsches
Volkslied" konnte nicht befriedigen und auch
nicht einmal auf die richtige Fährte leiten.
Selbst das „Daheim" brachte in seinem 1892r
Jahrgang eine vortreffliche Abhandlung des ba
dischen, jetzt in Heidelberg angestellten Pfarrers
Ad. Schul itthenner über das deutsche Weih
nachtslied, worin bedauert wurde, daß der Ursprung
unseres Liedes in völliges Dunkel gehüllt sei.
Das alles befremdete mich um so mehr, als ich