37
„Ja, so machen es die meisten. Dabei gehen sie
kaltherzig an der Leibes- und Seelennoth ihrer Mit
menschen vorüber, denen oft ein ermuthigendes
Wort neue Lebensfrendigkeit, neue Schaffenskraft
giebt."
„Nun, Frau Elise sieht nicht aus, als ob sie
am Leben verzagte, sie ist ja so frisch und
blühend, und ihre braunen Augen blitzen noch
so heiter, daß man bei ihr annehmen muß, sie
sei mit Gott und der Welt zufrieden", lachte ich.
„Da irrst Du gewaltig! Sie war gar oft
schon sehr unglücklich. Seit ich mir ihre Lebens
geschichte erzählen ließ und sie mir nun zuweilen
von ihrem in Amerika lebenden Sohn berichten
darf, ist sie ganz glücklich, wenn der erste Montag
im Monat kommt, an dem sie bei mir näht."
„Also einen Sohn hat sie? Und lebt ihr
Mann noch?"
Meine Tante rückte den Lampenschirm zurecht,
damit die Helle sie nicht blende, setzte sich in die
Sophaecke und zog mich neben sich.
„Frau Werner ist nicht verheirathet", sagte
sie dann.
„Nicht verheirathet! Tante, und Du läßt diese
Person mit Dir am Tisch essen?"
„Wie lieblos Ihr doch seid mit Eurem schnellen
Urtheil. Als ich Frau Elise nach ihrem Manne
fragte, warf sie die Näherei von sich, schlug die
Hände vor die Augen und schluchzte laut: ,O,
der Schande, daß ich so vor Ihnen stehen muß,
gnädige Frau! Alles Schwere hab' ich durch
gemacht, meinen herzlieben Buben hab' ich in der
bittersten Noth auferzogen. Nun werden Sie
mich nimmer im Hause dulden und denken
vielleicht gar, ich bin leichtfertig und schlecht!
Sagens nur gleich in einem hin, gnädige Frau,
daß ich nun nicht mehr zu kommen brauch'/
Wäre ich auch der fleißigen, netten Frau nicht
schon längst zugethan gewesen, ich hätte sie auf
dieses Geständniß hin doch nicht entlassen. Erst
hören und dann urtheilen, ist immer mein Wahl
spruch gewesen. Zudem liebe ich die ganze im
pulsive Art ihres natürlichen Wesens. Ich
begütigte sie also, und als ihre hochgradige Auf
regung sich legte, bat ich sie, mir rückhaltlos
ihre Geschichte zu erzählen. Sie ward glühend
roth, diesesmal in Freude über meine Güte, wie
sie sagte. Dann fügte sie hinzu: Lassen Sie
mich das lieber aufschreiben, gnädige Frau, ich
möcht's leichter können? Erst sah ich sie, glaub'
ich, recht verblüfft an, da sie aber in sichtlicher
Verlegenheit meinem Blick auswich, willigte ich
ein. Und das nächste Mal brachte sie mir ein
sauber geschriebenes Heftchen und legte es auf
meinen Schreibtisch."
„Eine originelle Person", bemerkte ich, da
Tante, wie in Gedanken verloren, schwieg.
„Ja, sie ist ein Original! Mögen die schwarzen
Wolken der Trübsal noch so schwer über ihrein
Haupte drohen, so jubelt ihr Herz doch dankbar
ans, sobald ein schwacher Sonnenstrahl sie durch
bricht. Ich gebe Dir die Bekenntnisse dieses
Naturkindes, lies sie selbst."
Daraufhin nahm ich die Blätter mit in meine
Wohnung, deren Inhalt ich wortgetreu hier
folgen lasse. Frau Elise schrieb:
„Alle Leute im Dorf haben erklärt, daß ich
ein bildsauberes Mädchen wär'. Meine Mutter
aber sagte: ,Laß alle schwätzen, das bringt dich
nimmer weiter, mußt fleißig sein und brav, das
ist alleweil immer die Hauptsache? So bin ich
alle Tage 'nein in die Stadt, um Nähen zu
lernen. In dem großen Geschäft im Eckhause
haben sie grad einen jungen Herrn zum Be
dienen gehabt, der mir etliche Mal begegnet ist,
beim Heimweg. Allemal hat er zu reden an
gefangen, und ich habe auf einmal siedendheiß
gespürt, daß ich ihn leiden mag. Er hieß Otto
Ruß und war ein schöner Mensch, mit so recht
treuscheinigen, hellen Augen. Einmal im Mai
ist er mit mir weiter gegangen. Die Vögel
haben aus allen Hecken gesungen, und die Welt
hat mir grad geschienen, wie'n Tag im Paradies.
Da hat er mich bei der Hand genommen und
gemeint, daß er keine Freude mehr am Leben
hätt', wenn ich nit seine Frau würde. Sein
Vater dächte zwar, er sollte die Tochter von
seinem Prinzipal freien, die schwer reich wäre,
aber lieber wollte er in die weite Welt gehen,
eher daß er so'n Mädchen nähme, die er nit
leiden möchte. Wie verzückt habe ich ihm zu
gehört, und so kamen wir zusammen heim.
Meine Mutter hat zanken wollen; wie er aber
so hoch und heilig geschworen hat, daß er im
Leben keine andere zur Frau nehmen wollte, dann
hat sie's ihm auch geglaubt. Und nachher mochte
sie ihn gar gern leiden. Immer hat er uns
vorerzählt, daß er sich umthäte nach einer Stelle,
wodrauf er heirathen könnte, denn mit so 'ner
fleißigen Frau wie ich, da wäre schon gut aus
kommen, wenn auch sein Vater ihm dann nichts
geben wollte. So hab' ich ihm mein ganzes
Herz geschenkt. Aus der großen, weiten Welt
habe ich keinen Menschen so gern gehabt. Und
dafür hat mich unser Herrgott gestraft. So sind
zwei Jahr hingegangen. Achtzehn Jahr bin ich
alt gewesen. Da meinte er, sein Vater ließ
einmal die Ruhe nicht mit der Tochter von
seinem Prinzipal. Er hätte einen guten Schul
freund, der Pastor geworden wäre, der sollte uns