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Leistungsfähigkeit in den letzten Jahrzehnten ganz
bedeutend zu Ungunsten der Kasseler Bibliothek
verschoben*).
Die erste Bibliotheksordnung ist, nach einem Ent
wurf von 1560**), 1564 erlassen worden; im
selben Jahre, in dem nach der kurzen kommissarischen
Verwaltung der Bibliothek durch Professor
Joh. Oldendorp (von 1558 an) der ordentliche
Professor der Logik Lonicerus zum Bibliothekar
im Nebenamt mit 20 st. Jahresgehalt und Dienst
wohnung ernannt wurde. Unter ihm wurde nicht
nur das Rechnungswesen geregelt (1571) und von
der Regierung spezielle Jnventarisirung der An
schaffungen gefordert, sondern auch der erste, jetzt
verlorene Katalog aus Befehl Wilhelm's IV. her
gestellt (1578). Der älteste (in Gießen) erhaltene
Katalog der Marburger Bibliothek stammt von
1606; er liegt dem Katalog von 1653, der bis
in dieses Jahrhundert maßgebend geblieben ist, zu
Grunde, wie die Bibliotheksordnung von 1564
der von 1653. Es ist bekannt, daß von 1650 bis
1653 die Universitätsbibliothek zwischen Hessen-
Kassel und Hessen-Darmstadt getheilt wurde; erst
seitdem führen die Schwesterinstitute in Marburg
und Gießen ein gesondertes Dasein. Zedler hätte
bei diesem bedeutsamen Ereigniß wohl einen größeren
Abschnitt machen können.***)
Aus der Folgezeit ist wichtig für die Entwickelung
der Bibliothek 1) die Erhöhung des Verlags durch
Zuweisung von Examens- und Jmmatrikulations-
geldern (1687 und 1701); 2) die Verpflichtung der
Marburger Buchdrucker und Verleger zur Abgabe
je eines Exemplars ihrer Verlagswerke an die Uni
versitätsbibliothek (1748), eine Bestimmung, die 1829
aus ganz Kurhessen zu Gunsten der Kasseler Landes
und der Marburger Universitätsbibliothek ausgedehnt
wurde. Endlich 3) wurde durch Landgraf Karl
1680 auch den Studenten gestattet, Bücher nach
Hause zu entleihen und seit 1685 die Bibliothek
an einem Wochentage auch dem übrigen Publikum
geöffnet.
Die zweite Periode ist charakterisirt durch die
zahlreichen Schenkungen, Vermächtnisse und Ueber-
weisungen von ganzen privaten und öffentlichen
Bibliotheken: so gingen die Bibliotheken der
*) Nach dem neuesten Stand (vergl. Minerva, Jahr
buch der gelehrten Welt, 5. Jahrg. 1895/96) stellen sich
hinsichtlich des Verlags die Ziffern für die vier großen
hessischen Bibliotheken folgendermaßen:
Marburger Universitätsbibliothek ... 22 054 Mk.
Großherzogliche Hofbibliothek in Darmstadt 19 457,46 „
Gießener Universitätsbibliothek . . . . 18 100 „
Ständische Landesbibliothek in Kassel . .11 000 „
**) S. 16, Z. 19 v. o. Druckfehler: 1560 statt 1660.
***) S. 35 Z. 2 v. o. ist zu lesen Nordshausen statt
Nordhausen.
Professoren Estor, Borell, Duysing, Michaelis,
Schröder in das Eigenthum der Universitätsbibliothek
über, und in der westfälischen Zeit wurden ihr
einverleibt die Bibliotheken von Üucklum, Corvey,
Helmstedt, Rinteln, Wolsenbüttel theils im Ganzen,
theils in Theilen; Vergrößerungen, die eine ganz
neue Zeit herbeiführten, indem sie die Anstellung
weiterer Beamten nöthig machten, neue Baupläne
reisen ließen imb die Katalogarbeiteil mächtig
förderten. Der Realkatalog wurde in Angriff ge
nommen und 1820 vollendet: 20 Hauptfächer in
16 Foliobänden, eine Eintheilung, die heute uoch
in Kraft ist. Vortrefflich und einzigartig ist
namentlich der in Zettelsorm angelegte Nominal
und Schlagwortkatalog der Dissertationen und
Programme, den die Marburger Bibliothek seit den
20 er Jahren besitzt. Interessant wäre es gewesen
festzustellen, ob und welcher auswärtige Einfluß bei
der Ordnung und Katalogisirung der Marburger
Bibliothek etwa sich früher bemerkbar gemacht hat.
<Diese Katalogarbeiten kommen namentlich aus
Rechnung Rehm's (1820—1847). Auch eine neue
Bibliotheksordnung wurde 1826 erlassen und die
Benutzungszeit seit 1848 erweitert; 1831 eine
aus Mitgliedern der vier Fakultäten bestehende
Bibliothekskommission für Neuanschaffungen den
Bibliothekaren zur Seite gesetzt, die ihr fragwürdiges
Dasein bis 1887 gefristet hat. Dieses Jahr, mit
dem Zedler abbricht, beginnt eine neue Periode
für die Universitätsbibliothek, indem damals nach
dem 1886 erfolgten Tode des Oberbibliothekars
Professor Dr. C. I. Cäsar die durch die bedeutende
Entwickelung und vermehrten Interessen der
Bibliothek schon längst geforderte nebenamtliche
Verwaltung der Bibliothek durch einen Professor
aufhörte und in dem Oberbibliothekar der Königs
berger Universitätsbibliothek Dr. Joh. Rödiger dem
altehrwürdigen gelehrten Institut ein gänzlich
selbständiger Leiter gegeben wurde. Beigegeben ist
am Ende eine Uebersicht über die Beamten und
den Personal-Etat, über den Büchersonds und ein
sehr gewissenhaft gearbeitetes Sachregister.
Zedler's Werk füllt nicht nur eine empfindliche
Lücke in der hessischen Gelehrtengeschichte aus.
Es ist zugleich eine hochersreuliche Frucht der so
entschieden aufstrebenden Bibliothekswissenschaft,
und ebenso wie der vaterländische Geschichtsforscher
wird sich auch der Bibliotheksbeamte dem Herrn
Verfasser zu lebhaftem Danke verbunden wissen
müssen.
Man darf behaupten, daß der großen Masse
selbst des gebildeten Publikums das Leben und
Weben einer Bibliothek, ihre Entwickelung und
ihre Bedürfnisse, von speziell technischen Dingen
ganz zu schweigen, noch heute eine terra incognita