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konnte nichts mehr sehen, nur die lauten, bestimmten
Befehle des Professors und manchmal ein leises
Wimmern oder lauteres Stöhnen der armen Frau
hören. „Luft, laßt Luft herein!" so hatte einmal
der Professor gerufen, und die Fenster wurden
weit geöffnet, aber der Vorhang verwehrte jedem
Neugierigen den Einblick.
So verging lange Zeit, dem Apfelbaum waren es
endlose qualvolle Stunden. Selbst die Natur schien
das Werk, das da drinnen eine todesmuthige
Hand, geleitet vom denkenden Menschengeist, aus
führte, nicht stören zu wollen. Es herrschte die
unheimliche Ruhe und Stille vor dem Gewitter.
Doch endlich kamen gewaltige Windstöße daher
gesaust, Donner und Blitz und nachtschwarzer
Graus, daß die Erde erbebte und die Menschen
erzitterten. Auch der Apfelbaum hatte viel zu
thun, sich des Unwetters zu wehren. Er faßte
seine breiten Aeste zusammen und beugte das
alte, knorrige Haupt. Leise fing es an zu tröpfeln,
und plötzlich stürzten lauwarme Wasserfluthen
herab und brachten Erfrischung der dürstenden
Erde. Es ward langsam Abend, der Himmel
klärte sich, und helle Sterne leuchteten in der
wonnigen Frühlingsnacht. Ein Wehen und
Weben, ein Raunen und Rauschen begann. Es
regten sich die Frühlingsgeister, die geschäftig ihre
Arbeit verrichteten. Auch ini alten Apfelbaum
ward es gar lebendig. Jedes Blüthenseelchen
klopfte ungestüm an seine schützende Hülle. „Auf-
gethan!" so rief es allerwegen und allerorten, in
den untersten Zweigen und hoch oben im Wipfel.
Der Apfelbaum mußte sich tüchtig rühren, alle
zu befriedigen.
Als die Sonne die ersten Strahlen zur
lachenden, blühenden Erde sandte, waren auch
bei ihm die letzten Fesseln gesprengt, und er stand
da herrlich anzuschauen in der ganzen Fülle seiner
rosigen Blüthenpracht. — „Ist sie gestorben?" Es
war sein erster Gedanke wieder, als er zur Ruhe ge
kommen. Das Fenster war immer noch geschlossen,
und auf dem ganzen Hause lag tiefes Schweigen,
Aber jetzt öffnete die Schwester den Vorhang,
und der Apfelbaum konnte wieder das kleine
Zimmer übersehen. Die Kranke lag auf ihrem
Bette ruhig schlummernd, um den Mund spielte
sogar ein leichtes Lächeln. Der Professor war auch
zugegen. Ein Sonnenstrahl schlüpfte in's Zimmer,
huschte bis zum Lager der Frau und streifte ihr
Angesicht, sie erwachte und blickte erstaunt umher.
Der Professor sprach in tiefer Bewegung das
eine Wort „Gerettet!" Sie erfaßte den seligen
Sinn des Wortes, und ihr Mund sprach nach
„Gerettet!" Ihr Blick fiel auf den blühenden
Apfelbaum, und jubelnd rief sie: „Der Apfelbaum
blüht zur Verheißung, zum herrlichen sichtbaren
Zeichen, daß auch ich wieder aufblühen und meines
Lebens mich freuen soll!" Da trat der Professor an's
Fenster und sagte tief gerührt: „So lange meine
Befehle hier befolgt werden müssen, soll nie eine
Axt an diesen Baum gelegt werden. Er soll noch
lange meinen Kranken selige Botschaft bringen von
dem Gott, der nach langer Wintersnacht wonnigen
Frühling sendet, und der auch die Menschen aus
langer Todesnoth zu neuem Leben erwecken kann."
Der Apfelbaum freute sich darüber so sehr, daß
er ganz stolz seine Blüthen trug. Alle Vögel
sahen ihm auch an, daß ihm etwas sehr Schönes
begegnet war; er ließ sich auch nicht lange nöthigen,
seine Erlebnisse zu erzählen, da freuten sich die Vögel
mit ihm und sangen der genesenden Frau ihre
schönsten Lieder. —
Der Apfelbaum, den ich einmal selbst be
lauschte, als er die einfache Geschichte seinen Ab-
miethern erzählte, steht heute noch in seinem
stillen Winkel. Viele Vögel nisten in seinen
Zweigen, sogar das freche Meisenpärchen war
eines schönen Tages wieder da. Böse Buben
hatten sein Nest zerstört, und nun suchte es Schutz
und sichere Wohnung in seiner alten Heimath.
Es ist ein fröhliches Leben. Die Vögel singen
und jubiliren, bauen Nester und erziehen ihre
Jungen. Manchmal ist der alte Apfelbaum eine
große Kinderstube, aber er beherbergt sie alle
gern. Der alte Gesell ist sehr ernst und gesetzt
geworden, und statt der Schnurren und Räthsel,
die er früher wußte, erzählt er seinen Schütz
lingen, die eifrig horchen, ernsthafte Geschichten.
Er erzählt von Elend und Krankheit, aber auch
von Aufopferung und barmherziger Nächstenliebe.
Er weiß zu berichten von schlichten Männern der
Wissenschaft, die den Tod bezwingen und die ihr
ganzes Leben der leidenden Menschheit widmen,
die in ernster Forschung die Räthsel des Lebens zu
ergründen suchen, die Natur in ihrer geheimsten
Werkstatt belauschen, und deren geschulter Geist dem
Erforschten lebendige Bedeutung zu geben versteht.
Der Art sind die Erlebnisse eines alten Apfel
baums in der Neuzeit, und wenn sie auch nicht
von dem Duft der Romantik umwebt sind wie die
Kindheits- und Jugenderinnerungen des alten
Gesellen, so legen sie doch Zeugniß ab von großer
werkthätiger Liebe und eifrigem humanen Streben,
das in unserer so viel gescholtenen Zeit der Gold
gier und der Genußsucht lebt und viele herrliche
Thaten zeitigt.