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Einmal erhielt er von einem mildthätigeren
Wirthe, für einen halben Realen täglich,
die Stelle eines Pianisten, aber es währte auch
nur wenige Tage. Ten Stammgästen des „Cafe
de la Cebada“ sagte die Musik Jnan's nicht zu;
er spielte weder Jotas, Polos, noch Sevillianer
und Flamencer, ja nicht einmal ein Polka, sondern
brachte die Abende damit zu, Sonaten von
Beethoven und Konzerte von Chopin zu inter-
pretiren. Tie Zuhörer verzweifelten, weil sie den
Takt dazu nicht mit den Löffeln schlagen konnten.
Ein anderes Mal trieb ihn das Elend in die
verrufensten Theile der Stadt. Eine barmherzige
Seele, welche durch Zufall von seiner Lage unter
richtet war, half ihm indirekt —, denn Inan
würde sich dagegen gesträubt haben, ein Almosen
anzunehmen. Er ah das Nothwendige, um nicht
Hungers zu sterben, in irgend einem Wirthshause
der niedersten Sorte und schlief für vier Cuartos
zwischen Bettlern und Verbrechern, in einem für
ähnliche Existenzen bestimmten Raum! Bei einer
solchen Gelegenheit wurden ihm, während er schlief,
seine wollenen Beinkleider, für ein Paar geflickte
aus Drill vertauscht. Und es war im Monat
November!
Ter arme Inan, welcher zu allen Zeiten die
Chimäre von der Ankunft seines Bruders, jetzt
nur vom Elende etwas unterdrückt, bewahrt hatte,
begann wieder mit Schmerz sich daran auszurichten.
Er erreichte es, daß man für ihn nach der Habana
schrieb, aber, da er die Adresse nicht wußte, ohne
jede genauere Angabe; dann gab er sich Mühe,
auszukundschaften, ob ihn nicht Jemand dort ge
sehen habe, aber ohne Resultat.
Täglich brachte er mehrere Stunden auf den
Knieen zu und bat Gott, daß er ihm den Beistand
seines Bruders gewähren möge. Die einzigen
glücklichen Augenblicke des Gequälten waren die
jenigen, die er in dem Winkel irgend einer Kirche
verbrachte; er athmete dann, hinter einer Säule
verborgen, die Düfte von Wachs und Weihrauch,
horchte dem Knistern der Kerzen und dem leisen
Geräusche der Betenden, die hier und da in dem
Schiffe der Kirche ans den Knieen lagen. Seine
reine Seele vergaß dann die Welt, die ihn so
grausam behandelte, und flog aufwärts, um sich
seinem Gotte und der heiligen Mutter zu einen.
Seit seiner Kindheit war die Ehrerbietung für
die Jungfrau tief mit seinem Herzen verwachsen.
Er hatte seine eigene Mutter kaum gekannt, und
so suchte er instinktiv in der heiligen Gottesmutter
den zarten, liebevollen Sehiltz, beu nur das Weib
dem Kinde zu geben vermag. Er hatte zu ihrer
Verherrlichung einige Hymnen und Gebete kom-
pvnirt intb schlief niemals, ohne ehrerbietig die
Medaille der heiligen Carmen zu küssen, die er
am Halse trug.
Dessenungeachtet kam ein Tag, an welchem
Himmel und Erde ihn verließen. Bon allen
Seiten verstoßen, ohne ein Stück Brot für den
Hunger, ohne Kleider, die ihn vor der Kälte
schützten, begriff er mit Schrecken, daß der Augen
blick herannahe, wo er um Almosen zu bitten
habe. Er kämpfte in der Tiefe seiner Seele einen
verzweifelten Kampf. Schmerz und Scham stritten
mit der Nothwendigkeit. Tie Finsterniß, welche
ihn umgab, machte diesen Kamps noch fürchterlicher.
Endlich aber, wie es nicht anders sein konnte —,
siegte der Hunger. Nachdem er vorher Gott
ein paar Stunden seufzend um Kraft angefleht
hatte, dieses Unglück zu ertragen, entschloß er sich,
die Barmherzigkeit anzuflehen. Aber dennoch be
schloß er, um dieser Demüthigung zu entgehen,
vorher Abends in den Straßen zu singen.
Er hatte eine leidliche und vorzüglich geschulte
Stimme, nur kämpfte er mit der Schwierigkeit,
kein Instrument zur Begleitung zu haben. End
lich verschaffte ihm ein anderer Unglücklicher, dex
nicht ganz so elend wie er selbst war, eine alte
zerbrochene Guitarre. Er besserte sie so gut aus,
als es ging, und nachdem er Ströme von Thränen
vergossen hatte, ging er in einer kalten Dezeinber
nacht auf die Straße. Sein Herz schlug un
gestüm, die Beine zitterten, und als er in einer
der Hauptstraßen zu singen versuchte, konnte er
es nicht, denn Schmerz und Scham schnürten ihm
die Kehle zu. Er lehnte sich an die Wand eines
Hauses und ruhte einige Augenblicke aus, und
dann, nachdem er sich etwas erholt hatte, be-
gann er die bekannte Tenor-Arie ans dem ersten
Akte der „Favoritin" zu siirgen. Schon von
Weitem zog er die Aufmerksamkeit aus sich, — es
war ja etwas Unerhörtes: ein armer Blinder, der
keine gewöhnlichen Gassenhauer sang! Biele bildeten
einen Kreis um ihn und nicht Wenige, welche
die Meisterschaft beurtheilen konnten, mit welcher
er die Schwierigkeiten des Werkes bezwang,
theilten sich in gedämpften Stimmen ihr Er
staunen mit und warfen einige Cuartos in den
Hut, den er an seinem Arme befestigt hatte.
Als er die Roinanze beendet, begann er die Arie
aus dem vierten Akte der „Asrikanerin". Aber es
hatten sich zu viele Menschen um ihn herum ge
drängt, und die Wache fürchtete, er könne die
Veranlassung irgend einer Unruhe werden —,
denn es war ausgemachte Sache für die Wächter
der öffentlichen Ordnung, daß Leute, welche sich
in der Straße zusammenthnn, um einen Blinden
anzuhören, durch diese Handlung gefährliche Ab
sichten zur Rebellion verrathen, eine gewisse