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scheint. Mit Freude und Wehmuth zugleich deute
ich zurück an jene Jahre und verbinde im Geiste
die eigene Vergangenheit mit den fruchtbaren
Marken des Dörfleins und dem Leben unb Treiben
seiner biederen Bewohner. Ist doch die Jugend
zeit mit ihrem kindlich frischen Leben, ihrer
heiteren Sorglosigkeit und ihrem gottbegnadeten
Frohsinn dem heranreifenden Alter ein sprudelnder
Quell lieber, dankbarer Erinnerungen, und je
weiter sich dasselbe von der „goldenen Zeit"
des Menschenlebens entfernt, um so verklärter
winken die freundlichen Gestalten der Vergangen-
cheit zu ihm heraus, unl so hastiger dünken ihm
die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse, umsponnen
von dem bezaubernden Liebreiz der Jugendzeit.
2. Der Dorfverkehr.
Es war noch echtes Dorfleben, welches in den
vierziger Jahren die Bewohner unter sich führten
und pflegten. Sie bildeten eine kleine, in sich
abgeschlossene Welt von Bauern. Das ländliche
Interesse war ihnen allen gemeinsam, Alle wirkten
und lebten für dasselbe. Die biederen Leute
waren sich selbst genug; jeder sah auf das Seine
und lebte mit dem Nachbar in Frieden. Streitig
keiten kamen unter ihnen nur selten vor, anb
noch seltener waren Amtsgänge, um durch richter
lichen Entscheid sich Recht zu verschaffen.
In dem stillen, weltentrückten Thale ragte
damals noch kein Fabrikschornstein in die Lüfte,
und die kreischende Dampfsüge des großen Diebacher
Sägewerks zog noch nicht Hunderte von Menschen
in ihren Bann; das Erwerbsleben der Neuzeit
hatte bis hierher seinen Einfluß noch nicht erstreckt.
Nur das Gemeindebackhaus hatte das Recht,
täglich bis tief in die Nacht hinein „schwarzen
Dampfrauch" aus seinem Schlote zu entsenden,
zum Zeugniß, daß hier Vorrathes genug war,
eine mehrfach hundertköpfige Bevölkerung aus
eigener Kraft zu ernähren. An dieser Stätte
waltete die Bauersfrau mit kundiger Hand ihres
dankbaren Amtes, stvlz auf die von der Mutter
erlernte Kunst, dem häuslichen Tische ein hoch
gewölbtes, schmackhaftes Brot zu bereiten.
Man plante auch damals noch nicht, wie heut
zutage, eine Eisenbahn durch das stille Thälchen
zu führen. Diese damals noch ganz neue Ein
richtung war nur vom Hörensagen bekannt.
Nur ganz wenige Leute aus dem Dorfe hatten
einmal die 1847 erbaute Frankfurt - Hanauer
Bahn zu Gesicht bekommen. Man wollte sie gar
nicht sehen, weil man hinter dieser Neuerung
nichts Gutes ahnte, ihr vielmehr die Ursache
manchen Verderbens, besonders der Kartoffel
krankheit, zuschrieb. Die Töne der Dampfpfeife
nannte man allen Ernstes das Schreien des
Todtenvogels für die Bauern.
Ein „Chaisewagen" war selten im Dorfe zu
sehen, und wenn sich ein solcher einmal hierher
verirrte, dann wurde das ungewohnte Gefährt
von Alt und Jung angestaunt und bewundert.
Zweimal regelmäßig in der Woche dagegen ver
kehrte zwischen hier und der Stadt der große,
mit vier kräftigen Eseln bespannte Müllerwagen
ans der „Herrnmühle" in Hanau, um von den
reichbeladenei: Fruchtspeichern der Bauern die
Erzeugnisse ihres Bodens und Fleißes abzuholen
und dafür klingende Louis- und Friedrichsd'or,
— so hießen damals die unbeschnittenen und be
schnittenen Goldfüchse —, im gespickten Geldkasten
zurückzulassen.
Die kleinen Erzeugnisse der häuslichen Wirth
schaft zu verwerthen, „zu Geld zu machen", war
Recht und Pflicht der Bäuerin, was ihr nach
altem Brauche allein zustand. Sie besuchte zu
dem Zweck regelmäßig samstäglich den Wochen-
markt in der Stadt. Hochaufgeschürzt, die Markt
mahne mit bewundernswerther Geschicklichkeit
und Sicherheit aus dem Kopse wiegend, schritt
sie behende ihrem Ziele zu. Ihr „Marktschatz"
bestand in Butter, Eiern, Milch, Hülsenfrüchten
u. dgl. Für die „Losung"*) erstand sie die
nöthigsten, kleinen Bedürfnisse des Haushaltes,
welche die eigene Wirthschaft nicht lieferte; der
Rest des erlösten Geldes wanderte in die sorgsam
verwahrte Geldbüchse der häuslichen Sparkasse.
Selten besorgte der Bauer diese Gänge zur Stadt,
und daun nur, wenn das Wetter anhaltend schlecht
oder ein größerer Einkauf für die Wirthschaft
zu besorgen war. In jedem Falle legte er seiner
Bäuerin gewissenhaft Rechnung und lieferte ihr
den Rest der erzielter: Losung ab.
Dieser spärliche Verkehr mit der Stadt läßt
auch erkennen, wie nüchtern und sparsam der
Bauer damaliger Zeit war und wie er seine
Kinder schor: dazu zu erziehen bestrebt war,
ländliche Einfachheit und Nüchternheit hochzuschätzen
und zu üben. Für den eigenen Lebensunterhalt
wurde auf solcher: Gänger: in die Stadt kein
Geld ausgegeben. Ein Stück selbstgebackenen
Brotes und selbstgemachter Wurst, das unterwegs
verzehrt wurde, genügte für die Zeit der Ab
wesenheit und ein Trurck kühler: Wassers hielt
Kopf und Magen gesund, die Glieder zum Wandern
frisch und leicht. Das nicht verzehrte Brot wurde
nach Hause zurückgebracht und als „Hasenbrot"
den lieben Kindern als Leckerbissen gereicht, den::
Hasenbrot sollte r:ach allgemeiner Ueberzeugung
*) D. i. die durch den Verkauf der Waaren gelöste Summe.